Wer hat schon eine Kristallkugel?

Victor Grossman über die diversen Interessenlagen im US-Wahlkampf, Hoffnungen und Bauchschmerzen

Victor Grossman in seiner Berliner Wohnung
Victor Grossman in seiner Berliner Wohnung

Herr Grossman, was ist Ihre Prognose: Wer gewinnt die US-Präsidentenwahl?

Ich hüte mich vor einer Prognose. Zu viele kluge Menschen tippten in der Vergangenheit falsch, und diesmal steht es wohl knapper denn je zuvor.

Ist nach der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten, Barack Obama, die Mehrheit der US-Bevölkerung bereit, nun auch eine Frau an die Spitze des Staates zu wählen?

Die Experten spekulieren viel darüber, die Meinungsumfragen fallen unterschiedlich aus. Die Frage spielt bestimmt eine Rolle bei Macho-Männern, die sich »nicht von einer Frau bestimmen lassen wollen«, weder zu Hause noch im Weißen Haus. Doch scheint die Frage längst nicht so wichtig wie 2016, als Trump gegen Hillary Clinton siegen konnte.

Interview

Victor Grossman, geboren als Stephen Wechsler 1928 in New York City als Sohn eines Kunsthändlers und einer Bibliothekarin, trat während des Zweiten Weltkrieges der Kommunistischen Jugend und dann der KP der USA bei und studierte an der Harvard University Ökonomie und Gewerkschaftsgeschichte. 1950 wurde er in die US-Army einberufen und war mit seiner Einheit in Bayern stationiert. Als bekannt wurde, dass er seine Mitgliedschaft in kommunistischen Organisationen verschwiegen hatte, drohten ihm in der McCarthy-Ära bis zu fünf Jahre Haft, weshalb er desertierte und über Österreich in die DDR floh, wo er als Journalist zum Schutz vor CIA und US-Militärpolizei unter Pseudonym, seinem nunmehrigen Namen, für verschiedene Medien tätig war.

Werden diesmal Afroamerikaner, Migranten und Frauen womöglich die Wahl entscheiden?

Frauenstimmen können durchaus entscheidend sein, besonders die der farbigen Frauen; nicht so überwältigend die Stimmen der weißen Frauen für Harris. Die Frage der Abtreibung ist hier maßgeblich. Trump, der zwar selbst prinzipienlos ist, auch in dieser Frage, nahm zunächst starke Position gegen Abtreibungen ein und ernannte Oberste Richter, die auch so dachten. Als er merkte, wie ihm das insbesondere bei Frauen schadet, die übrigens eher wählen gehen als Männer, versuchte er etwas zurückzurudern. Vielleicht zu wenig und zu schwach. Immer wichtig und oft mitentscheidend ist die Zahl der Afroamerikaner, die trotz aller früheren Enttäuschungen ihre Stimme abgeben und diese eher für Demokraten. Man kann nur hoffen, dass sie ihrer Stimme nicht durch allerlei bösen Tricks der Republikaner beraubt werden. 81 Prozent der schwarzen Frauen und 69 Prozent der schwarzen Männer sind für Kamala Harris, gegen Trump und seine Partei, die auf Rassismus baut. Das sind aber nicht so überwältigende Zahlen wie in früheren Wahlen, obwohl Harris’ Vater aus Jamaika stammt.

Auch Latinos und andere Einwanderer neigen stark zu Harris, weil Trump sie – vor allem die Mexikaner – als Räuber, Kriminelle, Vergewaltiger bezeichnete. In seiner von Rassismus triefenden Wahlveranstaltung in Madison Square Garden überzog er mit dummen Witzen alle Minderheiten, Schwarze, Latinos, Puertoricaner, Juden und sogar Flüchtlinge aus Haiti, mit menschenverachtenden Lügen. Dennoch dürfte Harris mit den Latinos nur eine kleinere Mehrheit erlangen als die Demokraten bisher. Das liegt zum Teil daran, dass Biden sie kaum besser behandelt hat als Trump, zum Teil aber auch, weil ein Teil sich sprachlich und wirtschaftlich einigermaßen »integrieren« konnte und Änderungen befürchtet. Wie groß die Mehrheit von Schwarzen und Latinos ist, die am Ende doch für Harris stimmen, könnte den Ausschlag geben. Es hängt insbesondere von den vielen Latinos in Arizona, Nevada und Pennsylvania ab, den Schwarzen in Georgia und Nordcarolina und den arabisch-stämmigen Amerikanern um Detroit in Michigan. Das sind gerade jene Staaten, die noch sehr wacklig sind.

Trumps Wahlkampagne baute auf rassistische und ausländerfeindlichen Ressentiments unter jenen Amerikanern, deren Vorfahren vor bereits ein paar Generationen in die USA geflüchtet waren und sich daher als »die echten« US-Amerikaner betrachten. Die Ähnlichkeit der Methoden des Spiels mit solchen Gefühlen sind in den letzten Jahren auch in fast allen Staaten Europas, auch in Deutschland, zu beobachten. Das ist furchterregend und erinnert an Hitlers Kampagne gegen Juden sowie Sinti und Roma – bis zum mörderischen Ende.

Spielt die Queer-Community eine Rolle?

Queer-Amerikaner spielen kaum eine größere Rolle; sie sind nicht so zahlreich – und leben vor allem in Bundesstaaten wie New York und Kalifornien, also dort, wo Harris sowieso einen sicheren Stand hat.

USA-Wahl

Die Wahlen am 5. November 2024 sind für die US-Bürger wie auch den Rest der Welt eine der wichtigsten Richtungsentscheidungen dieser Zeit. »nd« berichtet über die Stimmung und Probleme im Land, über Kandidaten und ihre Visionen. Alle Texte zur US-Wahl finden Sie hier.

Ist zu befürchten, wie manche orakeln, dass es zu einem Bürgerkrieg kommt, wenn das Wahlergebnis nicht nach dem vermeintlichen Willen der Mehrheit der US-Amerikaner ausfällt?

Das ist gewiss sehr zu befürchten. Die Trump-Leute könnten durch das Anzweifeln der Wahlmännerzahlen in manchen Bundesstaaten mit republikanischen Gouverneuren fatale Unruhen entfesseln. Denn bei einem ungewissen, ausbleibenden Resultat entscheidet das Unterhaus, wo jeder Bundesstaat, groß oder klein, eine Stimme hat – und die Republikaner halten die Mehrzahl. Oder, falls das alles nicht gelingt, warten gut bewaffnete Clubs und Sturmabteilungen. Und der Mob, der mit AK 15s und dergleichen Waffen gern Schwarze, Latinos, Studenten, Gewerkschafter und sonstige Demokraten und Linksliberale blutig aus ihrem Weg zur Herrschaft beseitigen möchten.

Wird es mit dem Wahlergebnis wirklich einschneidende Veränderungen in der Innen- und Außenpolitik der USA geben oder doch eher alles beim Alten bleiben?

Wer hat eine Kristallkugel? Es ist zu vermuten, dass – falls Harris gewinnt – der außenpolitische Kurs so bleibt, einschließlich aller Gefahren. Innenpolitisch könnten wirtschaftliche Krisen neue Taktiken erfordern. Ob die laue kapitalfreundliche Politik so anhält, bleibt offen. Die Freundschaft von Harris mit der Milliardärsfamilie Morgan und die Abhängigkeit der Partei von ähnlichen Familien wie den Clintons und leider auch Obamas, macht bange. Was Trump betrifft: Außenpolitisch hat er nie eine Ahnung gehabt – aber dafür die übelsten Ratgeber. Es wäre allzu schön zu glauben, er würde, wie er sagt, in einem Tage den Frieden in der Ukraine erreichen. Aber wie denn? Und als enger Freund von Benjamin Netanjahu? Innenpolitisch droht er beinahe offen mit einer Abart des Faschismus: dem Niederschlagen alle Gegner oder deren Einsperrung, die er abwechselnd als Faschisten, Nazis, Kommunisten, Bolschewiken, Prostituierte, Anti-Amerikaner oder Idioten schimpft – was ihm halt in seinem ignoranten Sinn einfällt. Und wofür er ignoranten Beifall bekommt.

Warum ist die Linke in den USA so schwach? Diesmal ist noch nicht mal ein Kandidat wie Bernie Sanders angetreten.

Leider ist das, was viele von uns hofften, dass sich die verschiedenen engagierten Gruppen und Organisationen zusammentun und für eine gemeinsame echt linke Politik kämpfen, vor allem um die Kriege weltweit zu beenden und die Dollar-Billionen für Waffen für die vielen echten Bedürfnisse der Menschen einzusetzen, nicht zustande gekommen. Die Gegenkräfte sind viel reicher und stärker. Dahinter stehen mächtige Konzerne wie Amazon und Apple, Elon Musk, Jeff Bezos ... ein Klüngel von Milliardären, Umweltzerstörern, Meinungsmachern.

Sie sind jüdischer Herkunft, Ihre Großeltern sind vor Pogromen im zaristischen Russland Ende des 19. Jahrhunderts in die USA geflohen. Inwieweit wird der Krieg in Nahost die Wahlentscheidung der US-Amerikaner beeinflussen?

Unter jüdischen Amerikaner, vor allem unter den Jüngeren, weichen die starken, durchaus verständlichen emotionalen Verbindungen zu Israel zunehmend einer Abscheu über den Massenmord und die totalen Zerstörungen in Gaza, in Westjordan-Palästina und nun im Libanon. Die Verbündeten von Netanjahu sind angesichts der wachsenden Solidarität mit den Palästinensern alarmiert. Äußerst reaktionäre Superreiche, die sehr leicht Dollarmillionen spenden können, versuchen mit anderen Rechten und christlichen Fundamentalisten die Empörung über Kriegsverbrechen in Gaza zu ersticken. Ein Großteil der fortschrittlichen Juden lebt in Bundesstaaten wie New York, Kalifornien, Illinois, die sicher gegen die Republikaner stimmen werden.

Und inwieweit spielt der Ukraine-Krieg eine Rolle?

Was die Ukraine betrifft, sind die Meinungen in den USA wie in Deutschland und in vielen anderen Ländern stark gespalten – zwischen jenen, die schockiert sind über die vielen Toten und die Zerstörungen und dafür den russischen Präsidenten Wladimir Putin allein oder fast allein verantwortlich machen und jenen, die ebenfalls erschüttert sind, aber die Hauptschuld in dem zielbewussten Vormarsch der von den USA angeführten Nato sehen, die auch Georgien und Moldawien russischem Einfluss entreißen wollen. Doch für die meisten Amerikaner ist die Ukraine weit entfernt, »unsere Jungs brauchen dort nicht zu kämpfen«, heißt es.

So große Friedensdemonstrationen wie gegen den Vietnamkrieg Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahren gab und gibt es nicht bei den Kriegen des 21. Jahrhunderts. Warum nicht?

Ja, es gab riesige Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, aber auch gegen den Irak-Krieg, leider lange verblich. Verloren sind durch diese Kriege Milliarden Dollar, die Schulen, Kranken- und Alterspflege, Kultur und Infrastruktur zugute hätte kommen können.

Wie erklären Sie sich das Phänomen der Trump-Begeisterung, obwohl jeder weiß, dass dies ein egozentrischer Mann ist und ihm für ein so wichtiges Amt, das mächtigste der Welt, schlicht die geistigen Voraussetzungen fehlen?

Nicht alle sehen das so. Millionen begeistern sich für ihn. Manche glauben, dass er – gerade weil er so ungehobelt daherkommt – die effektivste Antwort auf die wohlhabenden Akademiker und Intellektuellen der Ost- und Westküste der USA sei, die sich mit Gender-Debatten herumschlagen und sich für die echten Probleme der Arbeitenden wenig interessieren würden. Das betrifft insbesondere den Rust Belt, den »Rostgürtel«, die älteste Industrieregion der USA, um die Großen Seen, wo die Schwerindustrie ansässig ist, Chicago, Detroit, Pittsburgh, die Wackelstaaten Wisconsin, Michigan, Pennsylvania. Sehr viele sind für Trump aus ähnlichen Gründen wie viele in Deutschland für die AfD oder in Österreich für die FPÖ und in Frankreich für den Rassemblement National von Marine Le Pen sind. Demagogen haben es geschafft, mithilfe mancher Massenmedien und zunehmend auch »demokratischer« Parteien die Schuld für die verschlechterte Wirtschaftslage und ausgehöhlten Sozialleistungen nicht bei den Hauptschuldigen, den Superreichen, zu suchen, sondern den schwächsten, untersten Gliedern der Gesellschaft zuzuschreiben: den Flüchtlingen, die nur das wünschen, was sich jeder wünscht: eine anständige Arbeit, ein sicheres Dach über den Kopf, genügend zu Essen, ausreichende medizinische Behandlung und gleiche Bildungschancen.

Sie konnten als Deserteur aus der US-Army erst 1994, nach einem halben Jahrhundert Exil in der DDR, wieder in die USA einreisen. Dürfen Sie wählen, und werden Sie dies tun?

Ich bin USA-Staatsbürger geblieben und darf wählen. Irgendwie bekam ich aber diesmal keinen Wahlzettel für die Briefwahl. Vielleicht mein Glück? Für die Grüne, Jill Stein, oder Cornel West, auch ein Kämpfer für die Schwarzen und die Arbeiter, kann ich leider kaum stimmen, das würde am Ende Trump nützen. Für Harris – innenpolitisch moderat, doch gefährlich in Hinsicht möglicher weiterer Unterstützung für Netanjahu & Co. – würde ich mit Bauchschmerzen stimmen. Doch wegen der Säumigkeit der Wahlleute in New York brauche ich diese wichtige Entscheidung diesmal nicht zu treffen.

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