Sozialpolitische Bruchrechnung

Bangen und Hoffen: Sozialverbände und Gewerkschaften fürchten nach dem Aus der Regierung neue Unsicherheiten – und sehen doch Fortschrittschancen

Achtung, Baustelle: vor – und im Bundestag
Achtung, Baustelle: vor – und im Bundestag

Von einer »Dauerblockade von Zukunftsinvestitionen« durch Bundesfinanzminister Christian Lindner spricht Jochiam Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbands gegenüber »nd«. Diese sei durch seine Entlassung überwunden. Ist nun die Zeit für die Fortschreibung der Renten, für die Bekämpfung der Kinderarmut und soziale Gestaltung der Energiewende gekommen? Unklar, denn zugleich mache sich »dramatische Unsicherheit« breit. Auch der Präsident der Arbeiterwohlfahrt, Michael Groß fürchtet »in einer Zeit, die von Unsicherheiten geprägt ist, noch mehr Verunsicherungen«. Bei der Diakonie sorgt man sich, so teilt es eine Sprecherin »nd« mit, insbesondere um die Zukunftsfestigkeit der Pflege.

Erleichterung unter den Sozialverbänden

Erleichtert zeigt sich dagegen Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK. Die Entlassung Lindners stelle »eine wichtige Weiche für eine sozial gerechte Zukunft«. Sie erinnert an Kindergrundsicherung, Rentenpaket und das Behindertengleichstellungsgesetz, die »allesamt durch den Finanzminister ausgebremst wurden«. Lindner sprach sich wiederholt gegen die Bekämpfung von Kinderarmut durch Umverteilung aus und kürzte den Etat der Kindergrundsicherung. Von den von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) ursprünglich veranschlagten 12 Milliarden Euro pro Jahr blieben 2,4 Milliarden ab 2025 übrig. Umgesetzt ist die Reform bis heute nicht.

Selbiges gilt für die große Sozialreform der SPD, das Rentenpaket II. Jetzt sei deswegen die konstruktive Zusammenarbeit der Regierung gefordert, so Bentele: »Dabei darf der Blick nicht nur auf Verteidigung und Wirtschaft liegen, sondern auch die soziale Gerechtigkeit gehört zu dem Dreiklang, der Deutschland stabilisiert.«

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Der Deutsche Mieterbund (DMB) sieht ebenfalls eine Chance in der neuen Konstellation, fürchtet aber zugleich eine Vernachlässigung der Mietpreisbremse. Diese soll den Anstieg der Wohnraummieten in den Ballungsräumen verlangsamen. Über ihre Verlängerung – bis 2028 statt wie im Koalitionsvertrag vereinbart bis 2029 – erzielte die Ampel erst Mitte Oktober eine Einigung. Die Abgeordneten sollten die Zeit jetzt nutzen, »die verbliebenen Koalitionspartner in ihrem bis dato durch die FDP blockierten Bestreben nach verbessertem Mieterschutz zu unterstützen«.

Wirtschaft bangt um Standortfaktor

Die Wirtschaftsverbände fordern dagegen unisono rasche Neuwahlen und kritisieren Bundeskanzler Olaf Scholz’ Plan, die Vertrauensfrage am 15. Januar zu stellen. Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), begründet die Forderung mit der weltpolitischen Lage und der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung des Standorts Deutschland. Auch Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, fürchtet, die Regierungskrise könnte zum aktuellen Zeitpunkt »zum Standortrisiko« werden.

Gemeint ist damit die andauernde Haushaltsdebatte sowie auf internationaler Ebene der neu gewählte Präsident der USA. Donald Trump, bekannt für seine protektionistische Politik, setzt auf höhere Importzölle und stärkere Beschränkungen des internationalen Handels. Für deutsche Exporteure sind die USA der größte Absatzmarkt außerhalb der EU. Sollte Trump die angekündigten Basiszölle von 20 Prozent auf US-Importe aus der EU umsetzen, würde allein das für Deutschland laut arbeitgebernahem ifo-Institut einen wirtschaftlichen Schaden von 33 Milliarden Euro bedeuten. Die Industrie erhofft sich hierbei von der Bundesregierung klare Kante. Konkret wünscht sich Russwurm eine Regierung, die eine »entschlossene Wachstumspolitik« aufsetze. Die Vorschläge der Industrie lägen dafür auf dem Tisch. Zuletzt hatte der BDI auf weniger Bürokratie und »international konkurrenzfähige Unternehmensteuern« gepocht.

Schluss mit Schuldenbremse?

Für Serap Altinisik, Vorstand der Hilfsorganisation Oxfam, ist der Regierungsbruch dagegen symbolisch für das Scheitern der Schuldenbremse. Das Aus der Ampel habe gezeigt: »Ohne zusätzliche Finanzmittel lassen sich die anstehenden Probleme nicht lösen.« In ein ähnliches Horn bläst Verdi-Vorsitzender Frank Werneke: »Deutschland darf nicht kaputtgespart werden.« Was es jetzt brauche, sei ein finanzielles Sofortprogramm für Pflege, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur.

Generell begrüßen die Gewerkschaften die Entlassung Lindners. Als »richtig« bezeichnet sie Werneke, als »nur konsequent« Christiane Benner, Vorsitzende der IG Metall. Die FDP hätte nicht genug Regierungsverantwortung übernommen und, so Werneke, mit ihrer »Klientelpolitik für Reiche« bewusst das Ende der Koalition vorbereitet. Gemeint ist damit der Forderungskatalog Lindners von vergangener Woche, in dem er unter anderem existenzbedrohende Kürzungen für Bügergeldempfänger und Steuererleichterungen für Reiche forderte. Der Katalog verursachte die letzte Eskalation im Ampel-Streit.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.