Novemberpogrome in Berlin: Facetten des Gedenkens

Initiativen erinnern in Berlin an den 9. November 1938 – manche mit dem Staat, andere ohne

Passanten vor einem Geschäft, das in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von den Nazis in Berlin zerstört wurde.
Passanten vor einem Geschäft, das in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von den Nazis in Berlin zerstört wurde.

Es ist 86 Jahre her, dass Synagogen und andere jüdische Einrichtungen im gesamten Deutschen Reich brannten. Tausende Wohnungen und Geschäfte von Jüd*innen wurden zerstört. Hunderte Menschen starben in der Reichspogromnacht, viele weitere Hunderte an ihren Folgen. Der 9. November 1938 gilt in der Geschichtswissenschaft als die Einleitung zum Massenmord an Jüd*innen durch die Nazis. Bereits am 10. November wurden die ersten Jüd*innen in Konzentrationslager deportiert. Der 9. November war außerdem Anlass für Ministerkonferenzen in Berlin, auf denen die NS-Führung verschärfte antijüdische Maßnahmen beschloss.

Was taten Berliner*innen am 9. November 1938? Laut der Bundeszentrale für politische Bildung lehnte eine Mehrheit der Zivilbevölkerung die brutale Gewalt der Novemberpogrome zwar ab. Dies sei jedoch nicht gleichzusetzen mit der Ablehnung antijüdischer Politik. Zehn Prozent der deutschen Bevölkerung nahmen laut dem Präsidenten des Deutschen Historischen Museums Raphael Gross an den Pogromen teil. Bildquellen vom 9. November zeigen zahlreiche Zuschauer*innen bei den Gewaltaktionen der Nazis.

Erinnern und kämpfen ohne Staat

»Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen« lautet nicht nur die viel zitierte Botschaft des Shoah-Überlebenden Primo Levi, sondern ist auch Titel der Gedenkkundgebung und antifaschistischen Demonstration am Mahnmal Levetzowstraße im Ortsteil Moabit. Von Angriffen auf die Erinnerung »durch klassische Schuldabwehr, derer sich allen voran Akteure der extremen Rechten bedienen und die inzwischen auch von der AfD im Parlament vertreten wird«, ist im Aufruf des Gedenkbündnisses zu lesen. Man wolle sich mit Deutschland nicht versöhnen und stehe vor neuen Herausforderungen für ein antifaschistisches Gedenken und Handeln: Dies zeige sich »sowohl beim gefährlichen Erstarken rechter Parteien und deren Steigbügelhalter*innen aus der bürgerlichen Mitte, aber auch wenn sich Kritik an israelischem Regierungshandeln in offenem Judenhass und Gewalt gegen hier lebende Jüd*innen« Bahn breche.

Auch der »Jüdische Bund« ruft zum Erinnern an den 9. November auf. Die Veranstaltung »Wir wie wir trauern« findet auf dem Oranienplatz in Kreuzberg statt. Als Waffe eingesetzt und »zunehmend vom deutschen Staat vereinnahmt«, fühlten sich viele Jüd*innen entfremdet, heißt es in dem Aufruf. Man wolle der eigenen Trauer kollektiv Raum verschaffen und die Novemberpogrome ins Gedächtnis rufen. Die Veranstaltung stehe allen offen, »die um die Opfer staatlich sanktionierter Gewalt trauern«. Gemeinsam soll die Trauer in politisches Handeln gewandelt werden.

Gemeinsam gedenken mit dem Bezirk

Zum diesjährigen 9. November gibt es eine Vielzahl von Gedenkveranstaltungen, die von den Bezirksämtern in Spandau, Marzahn, Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg und Reinickendorf organisiert werden. Sie finden an Gedenksteinen, Mahnmalen, mit Vertreter*innen der Jüdischen Gemeinde, Schüler*innen und Rabbiner*innen statt.

»Die über Jahrzehnte erkämpfte Kultur des Erinnerns ist unterschiedlichsten Angriffen ausgesetzt.«

Aufruf zur Gedenkkundgebung in der Levetzowstraße in Berlin-Moabtit

Statt mit Kundgebungen oder Demonstrationen erinnern auch nichtstaatliche Initiativen zum 9. November auf Stadtrundgängen an jüdisches Leben in Berlin. Dazu gehört die Ortsgruppe der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), die für den Samstag einen Stadtrundgang in Oberschöneweide organisiert hat. Veranstalter Ben Hotz sagt gegenüber »nd«, dass man in diesem Jahr ein neues Format umsetze: »Wir kooperieren mit einer Stolpersteingruppe und setzen unseren Schwerpunkt auf die Industriegeschichte im Bezirk und die Rolle jüdischen Lebens für diese.« Auch der Antisemitismusbeauftragte des Bezirks beteilige sich an dem Rundgang.

Der 2011 gegründete Verein »Sie waren Nachbarn« in Moabit bedient sich ebenfalls des Konzepts Stadtrundgang. Man gedenkt der 30 000 Menschen, die aus Moabit in Vernichtungslager und Ghettos deportiert wurden. Dem Verein gehe es darum, der Nachbarschaft zu vermitteln, dass die Deportierten ganz normale Mitbürger*innen waren – »so wie wir sie heute überall auf der Straße sehen«, heißt es auf der Website. Eine kostenlose »Audiowalktour« mit verschiedenen Hörstationen informiert zum Beispiel über die einstige Synagoge in der genannten Levetzowstraße, die als Sammellager missbraucht wurde. Seit 2012 kooperiert der Verein mit dem Bezirksamt Mitte und nutzt einen Schaukasten vor dem Rathaus Tiergarten für wechselnde Ausstellungen über jüdisches Leben, bis Ende Dezember über Jüd*innen im Hansaviertel.

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Vereinsmitglied Aro Kurth erzählt »nd«, dass die Ausstellung prominente Jüd*innen und jüdische Strukturen im Kiez bis in die ersten Jahre der NS-Herrschaft zeige. Außerdem sei in dem Schaukasten eine Kopie des »Fensters der Erinnerung« zu sehen. Dieses zeigt eine Liste mit den Namen deportierter Moabiter*innen. »Es hing zuvor am Eingang des U-Bahnhofs, wurde aber im Sommer zerstört«, sagt Kurth. Im vergangenen Jahr sei die Ausstellung im Schaukasten zwei Wochen nach Eröffnung angezündet worden, sodass sie neu aufgebaut werden musste.

2023 war »Antifaschismus im Krankenhaus Moabit« das Thema. Die Ausstellung erzählte die Geschichte Georg Groscurths und Robert Havemanns, zu deren Patient*innen unter anderem Joseph Goebbels und Rudolph Hess gehörten. »Groscurths und Havemann gaben ihr Wissen aus den Gesprächen mit Goebbels und Hess an antifaschistische Widerstandsgruppen weiter«, erzählt Kurth. Havemann überlebte das Dritte Reich, Groscurth wurde 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden enthauptet.

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