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Häusliche Gewalt in Berlin: Zehn Stunden Hilfe suchen
Betroffene sexueller Gewalt haben in der Hauptstadt mit lückenhaften Versorgungsstrukturen zu kämpfen – auch bei der vertraulichen Spurensicherung
Das Krankenhaus im Außenbezirk schickt sie zur Polizei, die Polizei verweist zurück aufs Krankenhaus. Zehn Stunden vergehen, bis die Berlinerin ihren Weg in die Rettungsstelle der Charité in Mitte findet. Zehn Stunden, die sich für Betroffene sexualisierter und häuslicher Gewalt wie eine Ewigkeit anfühlen können.
»Solche Erlebnisse sind für alle belastend: für Betroffene und das medizinische Personal«, sagt Caroline Gabrysch bei einer Anhörung im Berliner Gesundheitsausschuss am Montag. Die gynäkologische Assistenzärztin der Charité spricht von langen Wegen quer durch die Stadt, die Frauen nach einer Misshandlung zurücklegen müssen, um Hilfe zu erhalten. »Viele Frauen brechen den Prozess ab«, ergänzt Gabryschs Kollegin Sophia Ossmann.
Damit solche Fälle bald der Vergangenheit angehören, arbeitet die Charité an einem neuen Projekt zur Dokumentierung gewalttätiger Übergriffe. Das digitale Tool soll nicht nur Betroffenen helfen, schneller an die richtige Adresse zu gelangen und nahtlose Unterstützung zu erhalten. Auch Ärzt*innen werde das Projekt ermöglichen, ihr Fachwissen leichter an medizinisches Personal weiterzugeben, so Gabrysch. Dieses könne dann unkomplizierte Untersuchungen selbst durchführen und besser informierte Entscheidungen treffen. »Es muss nicht unbedingt eine App sein«, sagt die Gynäkologin. Wichtig sei nur, die zentralisierte Versorgung in der Hauptstadt aufzubrechen.
An der Rettungsstelle am Campus Mitte, an der Gabrysch und Ossmann arbeiten, nimmt die Charité Spurensicherungen nach sexuellen Übergriffen vor, ausschließlich im Auftrag der Polizei. Die Zahlen, so Gabrysch und Ossmann, steigen beständig. Im vergangenen Jahr wurden 175 Spurensicherungen am Campus Mitte durchgeführt. »Solche Zahlen sind erschreckend, und sie zeigen, wie hoch der Bedarf für ein funktionierendes Hilfesystem in unserer Stadt ist«, sagt Ossmann. Eine Anschubfinanzierung für das Tool gebe es bereits. Um die Versorgungslücke zu schließen, brauche es aber die Unterstützung des Senats.
»Es gibt aktuell überhaupt kein verbindliches Angebot zur vertraulichen Spurensicherung.«
Marion Winterholler S.I.G.N.A.L. e. V.
Um die bittet am Montag auch Marion Winterholler vom S.I.G.N.A.L. e. V., der sich gegen sexualisierte Gewalt in Berlin einsetzt. Dem Verein ist es unter anderem gelungen, ein proaktives Beratungsangebot an Berlins Zentralen Notaufnahmen zu organisieren: Einrichtungen, die sich an dem Projekt beteiligen, bitten die bei ihnen eintreffenden Frauen darum, ihre Telefonnummer bereitzustellen. Nach dem Termin meldet sich dann eine professionelle Beraterin mit einem Gesprächsangebot. Wie Winterholler angibt, ist das Programm weitestgehend erfolgreich: »Jede zweite angesprochene Frau möchte einen Anruf bekommen. Jede dritte angesprochene Frau nimmt dann auch eine Beratung an.«
Obwohl das Angebot bereits an alle Zentralen Notaufnahmen gerichtet werden konnte, beteiligen sich bislang nicht alle von ihnen. »Wir führen viele Gespräche, schreiben an, informieren«, führt Winterholler aus. Doch in den Stellen herrschten schwierige Verhältnisse, das Personal befinde sich »am Limit«. Für zusätzliche Projekte wie das Beratungsangebot fehle es schlichtweg an Kapazitäten.
Großen Handlungsbedarf sieht die Sozialpädagogin zudem beim Angebot der vertraulichen Spurensicherung, auf das Betroffene rechtlichen Anspruch haben. Ohne die Polizei aufsuchen zu müssen, können Frauen sich medizinisch untersuchen, Befunde dokumentieren und Beweise aufbewahren lassen. Wer sich schließlich für eine Anzeige entscheidet, kann später auf die Untersuchungsergebnisse zurückgreifen.
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»Es gibt aktuell überhaupt kein verbindliches Angebot zur vertraulichen Spurensicherung«, kritisiert Winterholler. Möglichkeiten zur Terminvereinbarung gebe es lediglich über die Gewaltschutzambulanz, die Termine nur von Montag bis Freitag von 8 Uhr bis 15 Uhr anbiete. Nicht abends, nicht am Wochenende. Auch wenn Berlin in vielerlei Hinsicht eine Vorreiterrolle beim Thema sexualisierte Gewalt einnehme: »Wir haben an der Stelle einfach eine hohe Versorgungslücke.« Zu dieser, so Winterholler, zähle auch der fehlende Zugang für Minderjährige und Menschen mit gesetzlicher Betreuung, die die vertrauliche Spurensicherung nicht ohne Begleitung in Anspruch nehmen dürften.
Großer Streitpunkt bleibt zudem die Unterbringung der Proben, die bei vertraulichen Spurensicherungen genommen und fachgerecht gelagert werden müssen. Laut Berliner Krankenhausgesellschaft fehlt es hierfür schlichtweg an Geld. »Die Rahmenbedingungen sind ohnehin schon prekär«, sagt Geschäftsführer Marc Schreiner. Das jüngst im Bundestag beschlossene Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz verschärfe die finanzielle und personelle Lage noch weiter. Beschäftigte würden durch den Bürokratieaufwand »stranguliert«. Schreiner fordert eine zentrale Lagerung des Materials. Eine dezentrale Lösung sei aus Kostengründen nicht darstellbar, so der Chef der Krankenhausgesellschaft.
Immerhin: Zeitnahe Besserung stellt Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) bei der Lagerung bereits in Aussicht. Der Senat sei »positiv gestimmt«, dass das Problem in absehbarer Zeit geklärt werden könne. »Eine zentrale Lagerung ist die zu präferierende Lösung«, stimmt sie Schreiner zu. Wichtig sei es, einen sicheren Transport zu gewährleisten. Im Dezember sollen dem Senat zufolge letzte Einzelheiten geklärt werden, bevor das Land den Kliniken ein Konzept vorlegen will.
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