Werbung
  • Politik
  • Konferenz zu Digitalisierung und Whistleblowing

Whistleblowing als politische Kategorie

Das Disruption Network Lab ist seit einem Jahrzehnt Teil der Berliner Kulturlandschaft. Ein Interview mit der Gründerin Tatiana Bazzichelli

  • Max Freitag
  • Lesedauer: 7 Min.
BU
BU

Tatiana Bazzichelli, Sie sind künstlerische Leiterin des Disruption Network Lab. Disruption bedeutet Störung oder Zerstörung. Was genau wollen Sie stören?

Ich habe das Konzept im Rahmen meiner Doktorarbeit »Networked Disruption« ausgearbeitet. Der Begriff Disruption ist bewusst aus der Privatwirtschaft übernommen und in einen politischen Kontext übertragen. Im Businessjargon bedeutet das, ein unerwartetes Produkt auf den Markt zu bringen und so eine innovative Störung zu bewirken. Im Disruption Network Lab konzentrieren wir uns hingegen auf die Störung aktueller Unterdrückungssysteme, von technologischer Überwachung bis zu datenbasierter Kriegsführung, von algorithmischer Diskriminierung bis zum Aufstieg des Rechtsextremismus. Unsere Arbeit zielt darauf ab, das notwendige Wissen bereitzustellen, um die Logik solcher Systeme zu verstehen und sie durch kollektives Handeln zu verändern. Disruption bedeutet hier nicht Zerstörung, sondern kreative und transformierende Störung.

Laut ihrem Slogan wollen Sie »Systeme der Macht und Ungerechtigkeit aufdecken«. Was heißt das genau und wie interagieren diese Praktiken, Disruption und Aufdeckung?

Beide Begriffe bezeichnen einen Wandel geschlossener Systeme von innen. 2013, als Edward Snowdens Enthüllungen über Massenüberwachung herauskamen, begann ich, den Diskurs der Disruption mit Whistleblowing zu verbinden. Whistleblowing ist ein Mechanismus, der das Unerwartete aus dem Inneren eines Systems hervorbringt, um Veränderungen zu bewirken. Das gesamte Konzept hinter dem Disruption Network Lab basiert auf diesem Ansatz. Wir bringen Whistleblower*innen mit Kunstschaffenden, Hacker*innen, Aktivist*innen, investigativen Journalist*innen und Forschenden zusammen – also Menschen, deren Aktivitäten wir in meiner Perspektive als Disruption verstehen können. Durch ihre Vernetzung lassen sich Machtsysteme analysieren und die Störung erweitern. So wird Disruption zu einer kreativen Form der Kritik an Unterdrückung, Kontrolle und Diskriminierung. Rosa Luxemburg hat immer darauf bestanden: Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat. Man könnte sagen, dass wir diesen Ansatz kritisch weiterentwickeln.

Interview

Tatiana Bazzichelli ist Gründerin und Leiterin des Disruption Network Lab. Im Jahr 2023 gründete sie zudem das Disruption Network Institute, ein Recherchezentrum zu den Auswirkungen datenbasierter Technologien in der Kriegsführung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Whistleblowing und digitale Kultur. Zuvor war sie Kuratorin beim »transmediale« Festival und Mitglied in verschiedenen Preis- und Förderjurys, darunter der Hauptstadtkulturfonds und der Anti-Korruptionspreis von Transparency International.

Wenn das Lab im Laufe der Jahre eine kuratorische Handschrift trägt, dann ist es Ihre. Hat ihr Ansatz Wirkung gezeigt?

Das Lab analysiert potenzielle Veränderungen in Kunst, Politik, Technologie und der Gesellschaft insgesamt. Dabei wird eine nicht-zentralisierte kuratorische Perspektive angewendet, die sich fortlaufend und in Verbindung mit verschiedenen Akteur*innen in Konferenzen, Vorträgen und Workshops von Berlin ins Internationale ausdehnt. Unsere Organisation ist ein seltenes Beispiel für den Versuch, direkt mit Whistleblower*innen zusammenzuarbeiten und sie in einem interdisziplinären Programm mit Menschen zusammenzubringen, die sie normalerweise nicht treffen würden. Das ist nicht immer einfach, macht aber unsere Arbeit einzigartig und wirksam. Bisher haben wir über 30 Konferenzen im Kunstquartier Bethanien in Berlin-Kreuzberg organisiert.

Sie feiern das zehnjährige Bestehen des Disruption Network Lab, herzlichen Glückwunsch! Was hat Sie dazu gebracht, ein Projekt dieser Art zu starten?

Das geht auf meine eigenen Erfahrungen in der politischen Hacker*innenszene und auf meinen Aktivismus in Italien zurück. Nach vielen Erfahrungen an der Basis wurde mir klar, dass die Idee des Frontalwiderstands als Strategie für gesellschaftlichen Wandel nicht mehr wirklich funktionierte. Besonders prägend war für mich der G8-Gipfel in Genua 2001, der sich für die italienische und internationale Graswurzelbewegung als Trauma entwickelte. Die gewaltsame Unterdrückung der Demonstrant*innen durch die Polizei setzte meinem Glauben ein Ende, dass direkte Konfrontation Veränderung bewirken könnte. Eher wird man zu Opfern eines Systems, das den Widerstand für seine eigenen Zwecke zu instrumentalisieren weiß. Ich begann, das Konzept der »Störung von innen« anzunehmen, das später im Disruption Network Lab verkörpert werden sollte.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Hat das nicht zu einer Entpolitisierung des Konzeptes der Disruption geführt?

Im Gegenteil. Unser Programm ist dezidiert politisch. Seit 2015 organisieren wir Konferenzen zu Technologie, Unterdrückung, Kunst und Whistleblowing. Unser Projekt leistet zum Beispiel eine fortlaufende kritische Analyse von Künstlicher Intelligenz (KI), Überwachung und Diskriminierung. Ob Onlineüberwachung, militarisierte Grenzregimes oder Drohnenangriffe auf zivile Ziele – wir sprechen darüber. So haben wir auf Grundlage unserer Konferenz »The Kill Cloud« im März 2022 und des Buches »Whistleblowing for Change« das Disruption Network Institute ins Leben gerufen, das unserem Ansatz folgt, gesellschaftlich relevante Themen mit kritischen digitalen Praktiken zu verbinden. Das resultierende Projekt »Investigating the Kill Cloud: Information Warfare, Autonomous Weapons and AI« hat das Ziel, Diskussionen über die realen Auswirkungen künstlicher Intelligenz in der Kriegsführung anzuregen. Das Konzept der »Kill Cloud« (»Todeswolke«) wurde erstmals von den US-Drohnenprogramm-Whistleblower*innen Cian Westmoreland und Lisa Ling in unserem Buch skizziert. Sie beschreiben damit, wie die moderne netzwerkzentrierte Kriegsführung hinter dem Bild der Drohne versteckt wurde, obwohl die Systeme der »Kill Cloud« in Wirklichkeit weitaus umfassender und ungenauer sind, als vielen bewusst ist. Die »Kill Cloud« bringt weiterhin umfangreiche Kriegsphänomene in die ganze Welt, wie aktuell in Gaza.

Eine schwierige Frage: Was war Ihre Lieblingsveranstaltung der letzten zehn Jahre?

Ich habe viele Favoriten, aber es gibt einige Veranstaltungen, die mir aufgrund der Teilnehmenden besonders am Herzen liegen. Der direkte Kontakt mit Whistleblower*innen ist eine außergewöhnliche Erfahrung, die mein Leben bereichert hat. Diese Menschen haben viel durchgemacht, Kriegswhistleblower*innen etwa bezeugen Gräueltaten oder waren sogar selbst daran beteiligt. In meiner Vergangenheit als Aktivistin hätte ich es nicht akzeptiert, mich mit denjenigen anzufreunden, die ich als meine Feinde betrachtet hätte. Aber der Kontakt mit Whistleblower*innen, besonders aus dem Bereich der sogenannten nationalen Sicherheit, verändert die Sichtweise. Man versteht, dass Unterdrückungssysteme sowohl Opfer als auch Täter*innen in die Falle locken. Und manchmal ergibt es sich im Leben, dass sich Beteiligte von beiden Seiten einer gemeinsamen, gerechten Sache verschreiben können. Dank Chelsea Manning, Brandon Bryant, Lisa Ling, Reality Winner, John Kiriakou, Cian Westmoreland und Thomas Drake habe ich verstanden, dass Menschen ihre Meinung ändern und zusammen für eine bessere Gesellschaft kämpfen können.

Das politische Klima ist schlecht, die Kulturförderung wird gekürzt. Wie sieht die Zukunft für das Lab aus?

Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Auch für uns ist es ein ständiger Kampf, unser Programm am Leben zu erhalten, ohne sich an die Herrschenden zu verkaufen. Die Ressourcen werden für viele Projekte der freien Szene im Berliner Kulturbereich knapper, und es scheint, dass wir auf die Unterstützung unserer Community angewiesen sind. Seit diesem Jahr haben wir begonnen, Spenden anzunehmen. Die fortschreitende Erosion der öffentlichen Kulturfinanzierung in Berlin sowie die zunehmende Polarisierung, Diskriminierung und der Rechtsruck in unserer Gesellschaft machen mir Sorgen. Dabei ist gerade unser Projekt ist von kritischer Bedeutung in diesem Kontext. Wir haben ein Programm für 2025 geplant, das die Stärkung der Demokratie und die Bekämpfung des Rechtsextremismus, die Anprangerung von Kriegsverbrechen und technologischer Gewalt zentriert. Uns wurde auch angeboten, »Whistleblowing for Change« ins Deutsche zu übersetzen. Allerdings ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts gesichert, was paradox ist, nachdem wir mit dem Disruption Lab den Meilenstein von zehn Jahren erreicht haben.

Konzentrieren wir uns kurz noch einmal auf das Positive: Wie werden Sie das Jubiläum feiern?

Wir begehen das Zehnjährige im Rahmen unserer kommenden Konferenz »Investigating the Kill Cloud« am 29. und 30. November in Berlin. Aber tatsächlich gibt es in der aktuellen Krisenlandschaft eigentlich nicht viel zu feiern. Vielmehr wollen wir ein Verständnis für die Probleme des Einsatzes von KI in der Kriegsführung vermitteln, etwa für die willkürlichen Tötungen, wie sie im Gazastreifen stattfinden. An der Konferenz werden Whistleblower*innen wie Thomas Drake, Lisa Ling and Jack Poulson sowie Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen teilnehmen. Sie werden den Einsatz von KI in der vernetzten Kriegsführung und die sozialen und ethischen Auswirkungen von maschinellem Lernen bei der Entwicklung von Kontrolltaktiken, Datenverfolgung und Überwachung untersuchen.

Die Konferenz »Investigating the Kill Cloud: Information Warfare, Autonomous Weapons & AI« findet am 29./30. November im Kunstquartier Bethanien in Berlin-Kreuzberg statt. Weitere Informationen und die Tickets zur Teilnahme sind zu finden unter: www.disruptionlab.org

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.