Moldawien: »In der Mitte eines Sandwichs«

In Moldawien hat Staatspräsidentin Maia Sandu ihr Amt verteidigt. Aber ist die EU-Mitglied­schaft das drängendste Problem der Menschen im Land?

  • Interview: Almut Rochowanski
  • Lesedauer: 7 Min.
In der kleinen Republik zwischen Rumänien und der Ukraine geht es bei den Wahlen immer auch um die außenpolitische Ausrichtung nach Ost oder West.
In der kleinen Republik zwischen Rumänien und der Ukraine geht es bei den Wahlen immer auch um die außenpolitische Ausrichtung nach Ost oder West.

Sie haben unlängst gesagt, dass Moldawier*innen sich zwischen Russland und der EU wie in der Mitte eines Sandwichs fühlen: zerquetscht. Ihnen wird dauernd suggeriert, die Entscheidung für den einen oder anderen geopolitischen Block sei die wichtigste Frage für ihr Land. Wie sehen Sie das?

Das politische Leben in Moldawien ist schon lange sehr turbulent. Seit unserer Unabhängigkeit vor 33 Jahren geht es bei jeder Wahl angeblich um alles oder nichts – als ob eine Schlacht zwischen zwei Welten ausgefochten würde. Wir werden aufgefordert, uns für den Osten oder Westen zu entscheiden, »für den Fort- oder Rückschritt«. Auf der Strecke bleibt dabei die Freiheit, unser Land in dem Tempo zu entwickeln, das zu uns passt.

Was sind denn Ihrer Meinung nach die wirklichen Probleme der Moldawier*innen?

Es gibt sehr viele: Armut, Gewalt gegen Frauen, ein schlechtes Gesundheitssystem, unterfinanzierte Schulen und soziale Dienstleistungen. Moldawien hat die höchste Arbeitsmigration in der Region, diskriminierte Gruppen sind nach wie vor Drohungen ausgesetzt und unsere Verwaltung ist oft überfordert. Dazu kommt noch der Klimawandel. Wegen Dürre und Verschmutzung könnten wir bald nicht mehr genug Wasser haben. Aber alle diese Probleme sind uns über mehrere Regierungen hinweg erhalten geblieben, obwohl die Wahlen jedes Mal mit großem Drama ausgefochten werden.

INTERVIEW


Natalia Rezneac ist Mitgründerin der Organi­sation »Frauen für Frauen«. Veronica Teleuca arbeitet als Koordina­torin von »Leben ohne Gewalt«, einem molda­wischen Netz­werk gegen Gewalt gegen Frauen. Die Fragen haben sie gemeinsam beantwortet.

Und wie verhält sich die EU demgegenüber?

Die großen Geberländer, ob jetzt die EU oder die USA, behandeln uns wie Kinder, nicht wie gleichwertige Partner. Man sagt uns »das habt ihr aber brav gemacht« oder »ihr habt den richtigen Pfad gewählt«. Als wären wir ein Kleinkind. Aber wir beginnen immerhin, die Welt, die uns so behandelt, kritischer zu sehen und eine eigene Vision zu formulieren. Die Wahlbeteiligung lag diesmal bei 54 Prozent, das heißt, die Teilhabe am politischen Prozess ist in den letzten Jahren angestiegen. Die Moldawier*innen wissen, was sie wollen – nämlich ein besseres Leben – und machen von ihrem Wahlrecht Gebrauch.

Wie sehen Sie die viel zitierte Polarisierung der moldawischen Gesellschaft?

Die Polarisierung zwischen proeuropäischen und prorussischen Positionen ist Gift für die Demokratie und die Zivilgesellschaft. Die Nichtregierungsorganisation verabschieden sich immer mehr von der Aufgabe, die Regierung kritisch zu überwachen und Verbesserungen einzufordern. Wenn die Lage instabil ist und die regierende Partei sich proeuropäisch positioniert, dann betreiben die NGOs Selbstzensur, damit sie nicht als Feinde des proeuropäischen Kurses bezeichnet werden.

Präsidentin Maia Sandu gilt als Musterschülerin der EU. Wie beurteilen Sie ihre Amtszeit?

Maia Sandu ist die erste Frau, die in Moldawien zur Präsidentin gewählt wurde, und auch die erste Inhaberin dieses Amtes, die offen über Gewalt gegen Frauen und über Frauen in Führungsrollen gesprochen hat. Diese Anliegen hat sie aber nicht zur Priorität ihrer ersten Amtsperiode gemacht, sondern sich vor allem für das ausländische Publikum in Szene gesetzt. Seitdem sie 2020 ihre erste Wahl gewann, hat sie versprochen, Moldawien in die EU zu bringen – als ob sie sonst keinen Auftrag von der Bevölkerung hätte. Gleichzeitig sind die alten Probleme Moldawiens noch dringlicher geworden. Die Gewalt gegen Frauen ist seit Jahren alarmierend hoch, egal welchen Präsidenten wir haben. Das hat Folgen für die ganze Gesellschaft. Zum Beispiel fehlen in Moldawien Arbeitskräfte – was auch daran liegt, dass viele Frauen aufgrund des mangelnden Schutzes vor Gewalt und Diskriminierung das Land verlassen. Aber es wäre natürlich ungerecht, in erster Linie die Präsidentin dafür verantwortlich zu machen. Trotzdem wird Sandu in der internationalen Presse und von Moldawiens westlichen Partnern immer wieder »Tests unterzogen«. Sie wird mit einem Maß gemessen, wie es bei Männern so nicht der Fall wäre.

Wie wirkt sich Moldawiens engere Anbindung an die EU eigentlich innerhalb der Zivilgesellschaft aus?

In Moldawien können NGOs nur mit ausländischer Finanzierung aktiv werden, und die EU ist einer der wichtigsten Geber. Die Anforderungen für diese Förderung haben oft nichts mit den Bedürfnissen der Menschen in Moldawien zu tun, also müssen die NGOs auch noch nebenher viel Arbeit verrichten. Ausländische Finanzierung bringt auch enorme Bürokratie und Druck mit sich. Dazu kommt die Attitüde der Geber gegenüber den NGOs: »Wir wissen besser, was ihr braucht, und wir bringen es euch bei.« Auch die moldawischen Frauenorganisationen befinden sich in diesem Sinne in einem Sandwich: Sie sollen auf Knopfdruck Resultate liefern, um den Erfolg der Strategien ihrer internationalen Geber zu beweisen. Viele moldawische NGOs nicken brav dazu und verlieren ihre Eigenständigkeit. Die EU-Integration wird als magische Lösung aller Probleme präsentiert. Wenn wir es nicht schaffen, dann werden wir hingegen für immer draußen und rückständig bleiben, ein Niemand. Die Geberländer sind in dieser Konstellation Vertreter des Fortschritts, während wir die Rolle der Rückschrittlichen spielen. Aber tatsächlich geht es in diesem Verhältnis natürlich um Macht: Die Geber haben viel Macht, und wir nur sehr wenig.

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Wie wirkt sich diese Dynamik auf Frauen aus?

Die neuen Normen, die Moldawien übernommen hat, und das Geld, das unserem Land gegeben wurde, machen kaum einen Unterschied im Leben der moldawischen Frauen. Die Zahl der Verbrechen gegen Frauen hat zugenommen, sie sind grausamer geworden: Vergewaltigungen, Schwangerschaften von Mädchen, die selbst noch Kinder sind, sexuelle Belästigung. Es ist ein Versagen auf ganzer Linie. Uns hat das nicht überrascht.

Warum nicht?

Einerseits wurden in diese Bereiche in den letzten Jahren große Summen gepumpt. Andererseits wurden diese Gelder aber nicht für die wirklichen Bedürfnisse von Frauen und Communitys verwendet. Sie wurden von UN-Büros und anderen internationalen Organisationen verwaltet. Lokale Expertinnen, die sich das Vertrauen ihrer Communitys erarbeitet haben, wurden nicht sinnvoll einbezogen. Dazu herrscht die weitverbreitete Vorstellung, dass wir bloß diese Konvention ratifizieren oder jenes Gesetz beschließen müssen, damit alles besser wird. Aber das stimmt natürlich nicht.

Was für Konventionen meinen Sie?

Vor drei Jahren hat Moldawien die Istanbul-Konvention ratifiziert, ein Abkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Die moldawische feministische Bewegung hat damals sehr dafür gekämpft, weil wir davon überzeugt waren, dass mit ihr viel für die Sicherheit von Frauen getan werden könnte. Jetzt ist die Konvention in Kraft, und wir haben noch immer das alte Problem. Es ist wie eine Fata Morgana. Aus der Ferne sieht es toll aus, aber wenn du näher kommst, ist da überhaupt nichts. Die Regierung arbeitet eifrig auf die europäische Integration hin, aber ein großer Teil der Moldawierinnen lebt genauso wie immer. Sie sind arm, müssen zum Geldverdienen ins Ausland und werden von ihren Männern misshandelt und umgebracht.

Fühlt man sich in Moldawien eigentlich ähnlich wie in der Ukraine? Der Krieg dort ist ja sehr nah.

Die Lage ist ganz anders. Die Ukraine ist jetzt extrem ungeschützt, die Menschen dort durchleben schreckliche Zeiten. Krieg bedeutet Blut, Massenvergewaltigungen, Extremzustände, der Tod der Liebsten, zerstörte Heime, Entvölkerung und Unsicherheit auf Jahre hinaus. Wir können uns das kaum vorstellen.

Das heißt, die Kriegsangst ist ständig präsent?

Krieg ist ein Wort, das ich von meinen Großeltern gelernt habe. Sie erzählten mir, was Krieg bedeutet, wie sie ihn erfahren haben. Ich will das nie erleben. Natürlich habe ich Sorgen um Moldawien, nachdem wir geografisch so nahe am Krieg sind.

Wie steht es um Transnistrien? Die Region an der ukrainischen Grenze ist ja faktisch von Moldawien abgetrennt und es sind russische Truppen dort stationiert.

Die Lage in Transnistrien ist so wie schon seit Jahrzehnten. Es ist ein eingefrorener Konflikt, es gibt dort nach wie vor viel russische Propaganda. Aber die Menschen dort sind unsere Mitbürger, sie können in unseren Wahlen wählen. Diesmal hat Maia Sandu dort 25,1 Prozent der Stimmen erhalten. Das ist unerwartet für eine prorussische Region. Das ist ein Licht am Ende des Tunnels, könnte man sagen.

Welchen Weg würden Sie sich für Moldawien wünschen?

Wir sollten uns nichts einreden lassen, unsere Authentizität verteidigen und ein eigenes Fortschrittsmodell verfolgen. Ich glaube sogar, dass wir andere inspirieren können. Wir können zeigen, dass Wachstum so aussehen kann, wie es auch im Laufe eines Menschenlebens läuft – mal besser, mal schlechter. Und dass man das genießen kann. Es wäre schön, wenn man unserem Land Neugierde um seiner selbst willen entgegenbrächte und nicht nur an einer oberflächlichen Version interessiert wäre.

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