Dieser Mann ist richtig

Drinnen, draußen, wieder drinnen: »Bird«, ein australischer Gefängnisroman ohne Zeigefinger von Adam Morris

  • André Dahlmeyer
  • Lesedauer: 4 Min.
Gefängnis heißt in der Regel unkontrollierte Kontrolle und Macht: Jugendgefängnis in Darwin, Nothern Territory, Australien
Gefängnis heißt in der Regel unkontrollierte Kontrolle und Macht: Jugendgefängnis in Darwin, Nothern Territory, Australien

Down Under hat weiterhin ein Rassismus-Problem. Eine weiße Hautfarbe gilt als Eintrittskarte ins bürgerliche Leben mit halbwegs sicherem Arbeitsplatz nebst Karriereleiter. Fernsehen und Populärkultur sind vorwiegend weiß. Film und Literatur haben immer wieder versucht, Gebräuche, Mythologie und die sozialen Probleme der Aborigines nahezubringen. Kinofans erinnern sich vielleicht noch an Nicolas Roegs »Walkabout« (1971) oder an Werner Herzogs Parabel »Wo die grünen Ameisen träumen« (1984). Am meisten Werbung für die Welt der Urbevölkerung Australiens hat womöglich der 1987 erschienene Roman »The Songlines« (Traumpfade) des britischen Teilzeitnomaden Bruce Chatwin gemacht, auch wenn der wahrscheinlich nicht direkt mit Aborigines gesprochen hat.

Ins australische Outback (Weideland) fiel mit seinen 29 Inspektor-Napoleon-»Bony«-Bonaparte-Romanen der englische Einwanderer Arthur W. Upfield (1890–1964) ein. In den Nullerjahren sorgte Adrian Hyland ein bisschen für Aufsehen. Der irischstämmige China-Reisende hatte in Communities von Aborigines gelebt, Erwachsenenbildung gemacht und die Krimis »Diamond Dove« und »Gunshot road« publiziert, beide auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen. Protagonistin ist die Tochter eines Weißen und einer Aborigine. Liebe und brennender Hass sind bei ihr keine Gegensätze.

Einen neuen literarischen Anlauf hat nun Adam Morris unternommen, seines Zeichens »Autor, Musiker/Songwriter, preisgekrönter Filmemacher, Sonderpädagoge und Universitätsdozent«, wie der Verlag bekannt gibt. Was er zu Papier gebracht hat, kann sich sehen lassen, exzellent übersetzt von Conny Lösch. Sein Kunstgriff: Er versucht als Weißer erst gar nicht, Schwarze aus ihrer Perspektive berichten zu lassen. Was er sagen will, deutet er höchstens an. Nichts scheint ihm fremder zu sein als der bohrende Zeigefinger. Sein Kriminalroman »Bird« ist eher ein Gefängnisroman, wobei das Gefängnis an sich ja schon ein Verbrechen ist. Denn Gefängnis heißt unkontrollierte Kontrolle und Macht. Gefängnis ist Exzess und Sadismus. Eine sogenannte Gefängniskarriere bedeutet in aller Regel das Hamsterrad, man kommt nicht mehr raus, alles Spirale. Wie im wirklichen Leben: ohne Arbeit keine Wohnung, ohne Wohnung keine Arbeit. Teufelskreis.

»Bird« ist ein klassisches Social-Beat-Drama, es beobachtet, beschreibt, zeigt Missstände auf, wertet aber nicht (also Teufelswerk für die korrekte Gemeinde). Keine Leserin und kein Leser möchte bevormundet werden. Man sucht in der Handlung den Gesetzesverstoß. Es wird ein bisschen herumgedealt, die eine und andere Faust sitzt locker. Gravierendes schreibt sich anders. Frauen kommen kaum vor (nicht mal in der Kneipe) und wenn, dann sind sie süchtig oder sozial abhängig oder beides. Man kann sagen, es handelt sich um klassische Männerliteratur. Die Männer kommen überwiegend besser weg, als sie wirklich sind. Ein tolles Buch für Frauen mit Helfersyndrom. Ansonsten ist man entweder im Gefängnis drinnen oder draußen. Hip-hop, don’t stop. Schwarz oder Weiß. So heißen auch die Kapitel: »In«, »Out« und »Shake It All Around«.

Protagonist ist der Mittzwanziger Noongar Aboriginal Carson. Drinnen, draußen, wieder drinnen. Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass dieser Mann richtig ist. Er sucht keinen Streit, aber wehrt sich, wenn er Konflikten nicht mehr vorbeugen kann. Eigentlich ist er beinahe vorbildlich, hat aber für das weiße Australien die falsche Hautfarbe. Ständig wird ihm Dreck angeheftet, der ihn würgt wie eine Schlinge. Je mehr er sich wehrt, passiv aufbegehrt, desto mehr zieht sich die Schlinge zu. Die Weißen sind blind für seine Welt, sehen sich nur selbst. Und einer muss schuld sein, dass es ihnen so gut geht. Es ist unser Mann. Was nützt es ihm, wenn ihn der Kunstlehrer für intelligent hält? Was nützt ihm die Psychologin, die sich selber nicht im Griff hat? Was der Bewährungshelfer, der sich bei ihm umhört, wie lukrativ Dealen ist?

Er bleibt der Spielball eines Systems, man treibt oder wird getrieben. Klare Rollenverteilung. Erzählt wird gebrochen und aus mannigfaltigen Perspektiven, kennt man von Helmut Krausser. Alle träumen von anderen Leben, nicht nur die im Knast, vom Big Bang, schneller Kohle, ohne sich groß anzustrengen. Deshalb klappt so was ja auch meist nie. Und drinnen? Aufbewahrung und Verwaltung, im schlimmsten Fall Folter. Interessant ist der Ausdruck der »Kriminalitätsdrehtür«, den ich in diesem Zusammenhang in deutschen Medien gelesen habe. Soll heißen: es geht immer wieder rein.

»Bird« ist eine Polyphonie. Es wird viel geredet. Von und über falsche Entscheidungen. Was ist schon eine richtige? Ist sie unfalsch? Die ermüdenden, abstrusen Zukunftspläne der Insassen im Gefängnis gleichen denen der Menschen, die nicht drinnen sind, fatal. Unterschied: Im Westen des Kontinents liegt der Anteil der indigenen Gefangenen bei über 50 Prozent, obwohl Indigene nur 2,8 Prozent der australischen Bevölkerung stellen. Rassismus schreibt sich genau so. Die Lebenserwartung der Aborigines liegt zirka 20 Jahre unter der der Weißen. Schwarz und Weiß ist sowieso anachronistisch. Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Sie ist komplex.

Adam Morris: Bird. A. d. austr. Engl. v. Conny Lösch. Edition Nautilus, 304 S., br., 20 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.