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Ausgrenzung durch Arbeit
Soziologe Peter Birke über Ausbeutung migrantischer Beschäftigter und »multiple Prekarität«
Es scheint Konsens zu sein, Migrierende und Geflüchtete schnell in Arbeit zu bringen. Zugleich wird auf eine Verschärfung von Migrationsregelungen gedrängt. Ist das nicht widersprüchlich?
Ja, absolut. Der öffentliche Diskurs folgt der Illusion, dass sich die Leute an der Grenze von Migrierenden in Arbeitskräfte verwandeln. Man lehnt Migration ab, aber heimlich weiß man, dass man von ihr abhängig ist. Die Folge ist, dass die Arbeit abgewertet wird. Denn wer sagt, wir müssten jetzt die Migrant*innen an der Grenze möglichst stark misshandeln, der sagt zugleich, dass all die Leute, die in der 24-Stunden-Pflege, in der Fleischindustrie, in den Paketdiensten arbeiten, im Grunde überflüssig seien. Sie sind überflüssig, sollen uns aber zu Diensten stehen. Vollkommener Blödsinn.
Mitunter wird argumentiert, Arbeitsmarktintegration diene als Sprungbrett. Wie sieht es in den von Ihnen untersuchten Branchen aus?
Wenn wir Migrant*innen interviewen, dann wird häufig erzählt: Ich mache das übergangsweise, weil ich meinen Aufenthalt verstetigen muss oder weil ich meiner Mutter in Rumänien Geld schicke. Dafür nimmt man zeitweise auch gesundheitsschädliche Arbeit, überlange Arbeitszeiten oder vergleichsweise geringe Löhne in Kauf. Aber wenn im öffentlichen Diskurs gesagt wird, dass prekäre Beschäftigung ein »Sprungbrett« sei, ist das etwas anderes: Es legitimiert, dass die Leute »vorläufig« ausgebeutet werden. Aber was soll man in der Nachtschicht in der Maschinenreinigung der Fleischindustrie lernen? Da spielt nicht mal die deutsche Sprache eine Rolle. Es ist oft eher das Gegenteil, nämlich Ausgrenzung durch Arbeit.
Wie lang verbleiben die Beschäftigten in der Prekarität?
Peter Birke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen. Er forscht unter anderem zur betrieblichen Teilhabe von Geflüchteten in Niedersachsen und ist Mitherausgeber des Buches »Geteilte Arbeitswelten. Konflikte um Migration und Arbeit«.
In der Fleischindustrie kann man auch zehn Jahre arbeiten, aber viele ergreifen vorher die Flucht und suchen sich neue Beschäftigung, oft in anderen prekären Bereichen. Dabei sind die Prekarität des Aufenthalts und die sozialrechtliche Ungleichheit oft die Voraussetzung dafür, dass diese stark segmentierten Bereiche überhaupt Arbeitskräfte festhalten können. Es bestehen zudem lokale Migrationssysteme, die den Nachschub an billiger Arbeitskraft sichern. In der Fleischindustrie wird die Rekrutierung über eigene Büros oder Rekrutierungsagenturen für Subunternehmen in Osteuropa geleistet, während etwa Amazon die Möglichkeit hat, sich am Autobahnkreuz in der Nähe von Orten zu platzieren, an denen billige Arbeitskräfte verfügbar zu sein scheinen. Dort ist die Belegschaft dann heterogener, und auch mehr Geflüchtete arbeiten dort als etwa in der Fleischindustrie.
In der Fleischindustrie wurde das Arbeitsschutzkontrollgesetz eingeführt, um Missstände zu beheben. Greift die Regulation?
Alle Formen der Regulation waren zunächst eine Reaktion auf Skandale. So war es auch in der Pandemie im Bereich der Fleischindustrie. Es ist gut und wichtig, dass dort Subunternehmen und Werkverträge verboten wurden. Das gilt aber nur für Schlachtung und Zerlegung. In anderen Teilbereichen wie der Industriereinigung sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse noch erlaubt, auch bei den Paketdiensten oder in der Gebäudereinigung und anderen Bereichen. Die Regulierungsaufgabe ist riesig: Die neoliberale Deregulierung hat seit den 80er Jahren dazu geführt, dass Entsendung, Subunternehmen, Leiharbeit überhaupt möglich wurden. Zudem hat die Prekarität von migrantischen Beschäftigten einen multiplen Charakter. Hier greift das Arbeitsschutzkontrollgesetz nur bedingt. Es greift in die Erwerbsarbeit ein, aber die Leute bleiben im Wohnen oder in Bezug auf ihre aufenthaltsrechtliche Situation prekär. Es bräuchte eine Regulierung im Sinne von verallgemeinerten Mindestbedingungen. Der erste Schritt wäre, soziale Rechte und Ansprüche unabhängig von Staatsbürgerschaften zu formulieren.
Welche Handlungsmacht haben die Beschäftigten?
Ein guter Teil der Dynamik, die in der Pandemie für Handlungsdruck sorgte, lag daran, dass es Proteste von Arbeiter*innen sowie Medienöffentlichkeit in Herkunftsländern gab. Die Handlungsmacht ist allerdings unterschiedlich ausgeprägt, auch weil der Status von Leuten unterschiedlich prekär ist: Migrantische Arbeit ist kein »Block«, sondern mit unterschiedlichen Machtressourcen verknüpft, die etwa auch vergeschlechtlicht verteilt werden. Es ist kein Zufall, dass Streiks oft im Bereich der EU-Migration oder an neuralgischen Punkten von Lieferketten stattfinden, wie im Fall der Fernfahrer in Gräfenhausen.
Welche Hürden stellen sich Gewerkschaften?
Es handelt sich um neue Branchen oder um solche, in denen Tarifverträge und Mitbestimmung auch schon früher eine geringe Rolle gespielt haben. Es gibt drei Gründe für den hohen Schwierigkeitsgrad von Organizing. Es braucht mehrsprachige Funktionäre oder Vermittlerinnen, besonders beim Zugang zu Leuten, die gerade erst migriert sind. Zudem braucht es eine Sicht auf multiple Prekarität, die sich nicht auf Arbeitsbedingungen reduziert. Drittens muss die andere Zeitlichkeit von sozialen Kämpfen in Bereichen von neuer Migration berücksichtigt werden. Das Modell des Metallarbeiters, der 40 Jahre in einem Betrieb bleibt, ist hier obsolet. Die organisatorischen Kerne bilden sich nicht in Tarifrunden, sondern in spontanen Aktionsformen. Das ist nur mit vielen Ressourcen zu bewältigen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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