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»Der Schlaf der Vernunft«: Aufwachen, nachdenken
In »Der Schlaf der Vernunft« analysiert Daniela Dahn die Weltlage entgegen gängiger Muster und verknüpft die ostdeutsche Geschichte mit der Gegenwart
Auf dem Titelbild Goyas berühmte Radierung »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« (1799). Das passt zu diesem mutigen Buch, denn Daniela Dahn weicht den Ungeheuern nicht aus und redet sie nicht klein. »So ist alles, was geschieht, nur eine Fortsetzung der Reihe und kein Anfang, der sich von selbst zutrüge« – getreu dem Leitsatz Immanuel Kants nimmt sie all das gegenwärtig so Beängstigende in den Blick. Wir bilden es uns doch nicht ein. Das Kriegsklima ist tatsächlich bedrohlich, und den wirtschaftlichen Niedergang unseres Landes bekommen wir hautnah zu spüren. »Wir haben reichlich Gelegenheit, die Vorstellung zu empfangen, dass die Vernunft bei den von uns gewählten Entscheidungsträgern schläft. Sie halten nicht hinreichend Schaden von ihrem Volk ab, wozu sie sich verpflichtet haben. Sie versagen darin, eine Friedensordnung zu gewährleisten, den irreparablen Kipppunkt des Klimas zu verhindern, Fluchtursachen zu bekämpfen. Sie schüren Ängste vor Pandemien, aber gehen ein Weltkriegsrisiko ein, um ihre Werte, also ihre Herrschaft, durchzusetzen.«
In erster Person tritt uns die Autorin gegenüber, flicht Lebenserfahrungen ein. Sie ist 1989 eine der Mitbegründerinnen der DDR-Oppositionsgruppe »Demokratischer Aufbruch« gewesen, wollte aber deren Annäherung an die CDU nicht mittragen. Der Untersuchungskommission zu den Polizeiübergriffen auf Demonstrierende vom 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin hat sie angehört, wurde von der PDS 1998 als Kandidatin als Verfassungsrichterin in Brandenburg vorgeschlagen. Dass sie im Landtag nicht die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit bekam, verwundert nicht. Im April 2022 gehörte sie zu den Unterzeichnerinnen eines offenen Briefes an Bundeskanzler Olaf Scholz gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und war im Februar 2023 Erstunterzeichnerin des von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht verfassten Manifestes für Frieden. Ihre Eröffnungsrede auf dem Parteitag des BSW ist hier abgedruckt. Da äußert sie als Parteilose die Hoffnung auf Kooperation mit der Linken dort, »wo sich Gemeinsamkeiten erhalten haben«. Als Internationalistin bekennt sie sich zur »anhaltenden Gültigkeit der revolutionären Forderung ›Prekarier aller Länder vereinigt euch!‹«
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Dass die heutigen Herausforderungen global sind, ist keine leere Floskel. Mit Daniela Dahn kann man das Denken in Zusammenhängen üben, hinter den Erscheinungen nach dem Wesen gesellschaftlicher Vorgänge suchen, zumal hier nichts vereinfacht wird. Es ist eine erhellende Lektüre, weil die Autorin ihre Einschätzungen – zum Krieg in der Ukraine, zu den Defiziten kapitalistischer Demokratie, zu Antisemitismus und Rassismus, zu den Wahlerfolgen der AfD und zur Ost-West-Debatte – immer auch mit Fakten unterlegt, die zum Teil noch nicht ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen sind. Etwa, dass die Sprengung der Nord-Stream-Pipeline »den größten Methan-Ausstoß aller Zeiten« brachte, oder dass schon in Friedenszeiten »das Militär laut SIPRI ein Viertel der weltweiten Umweltverschmutzung« verursacht. »Doch die Staaten, als wären sie unbelehrbar, gaben schon bisher sechsmal weniger für die Bewahrung des Klimas aus als fürs Kriegswesen.« Wenn die »bewundernswert Kampfentschlossenen von den Ökologie-Bewegungen … so vehement für eine Verkehrswende« kämpfen, wieso nehmen sie es dann hin, dass »das Militär für seinen ökologischen Fußabdruck weltweit niemandem rechenschaftspflichtig« ist? Laut einer Studie der NGO »Oil Change International« sei der »Kerosinverbrauch von vier Jahren Irakkrieg so hoch … wie der Jahresverbrauch von 25 Millionen Autos« gewesen.
In Bezug auf den Krieg in der Ukraine sei das Dilemma offensichtlich, so Daniela Dahn: »Je erfolgreicher die Nato-Kriegsführung auf dem Boden der Ukraine und dem neuen Gefechtsfeld Russland wäre, desto wahrscheinlicher würde ein russischer Einsatz von Atomwaffen. Erfolg als sicherster Weg in den Untergang.« Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für Rüstung, »praktische Konsequenz der Scholz’schen Zeitenwende, sind eine Investition in genau dieses Fiasko«.
Auch dafür hat die Ampel-Koalition bei den ostdeutschen Landtagswahlen eine Quittung erhalten. Warum so viele Stimmen für die AfD? War das wirklich ein Votum gegen die »Demokratie« oder eher gegen das, was daran nur Fassade ist? Wurzelt der sogenannte Rechtsruck vielleicht gar im Inneren des bundesdeutschen Staates? »Antifaschismus war in der Bundesrepublik nie Staatsräson«, betont Daniela Dahn. Das »antikommunistische Rollback der politischen Entscheidungsträger im Westen« nach dem Beitritt der DDR zur BRD – viele Beispiele werden dafür angeführt – »hat nicht nur den Osten erfasst, sondern das ganze Land«. Was da im Einzelnen alles an Ungerechtigkeit geschehen ist, werden viele vergessen haben. »Nach repräsentativen Erhebungen demonstrierten zwischen 1990 und 1994 in Ostdeutschland drei Millionen Menschen gegen Entlassungen und Ungleichbehandlung – doppelt so viele wie bei der ›Friedlichen Revolution‹ – doch sie wurden ignoriert.«
Aus machtpolitischen Gründen wurde die Einheit nicht nach dem eigentlich dafür vorgesehenen Grundgesetzartikel 146 vollzogen. Welche Möglichkeiten der Verfassungsentwurf des Runden Tisches bot, der am 4. April 1990 der neu gewählten Volkskammer übergeben wurde, lässt sich bei Dahn nachlesen. Was für Chancen damals vertan wurden! »Es war Pflichtvergessenheit gegenüber einem sich ausbreitenden Ohnmachtsgefühl von Bürgern, die zu dem sofort einsetzenden Rechtsruck beigetragen hat, zu Frust, Hass, Gewalttätigkeit und Verachtung der repräsentativen Demokratie. Es war organisierte Verantwortungslosigkeit der Mächtigen.«
Werden diese »Mächtigen« durch ein Buch wie dieses aus dem »Schlaf der Vernunft« erweckt und zum Nachdenken gebracht? Wohl kaum. Aber lassen wir uns nicht beirren, behalten wir den Kopf oben und tun wir, was wir können.
Daniela Dahn: Der Schlaf der Vernunft. Über Kriegsklima, Nazis und Fakes. Rowohlt Verlag, 192 S., geb., 16 €. nd-Literatursalon mit Daniela Dahn: 27. November, 18 Uhr, Münzenbergsaal im Haus am Franz-Mehring-Platz 1, Berlin
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