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Nie wieder ist jetzt

Alex Demirović über kategorische Imperative und die Einseitigkeit der Bundestags-Resolution zum Schutz jüdischen Lebens

Frühjahr 2024: Protest gegen eine rechtsextremistische Veranstaltung in Schwerin
Frühjahr 2024: Protest gegen eine rechtsextremistische Veranstaltung in Schwerin

Drei Denker in Deutschland: Kant, Marx, Adorno. Alle drei haben sich bemüht, eine allgemein verbindliche moralische Regel auszustellen, die unser tägliches Handeln leiten sollte: einen kategorischen Imperativ. Kant schlug vor, unter einem moralischen Handeln ein solches zu verstehen, das unser Tun unter allgemeines Gesetz stellt: Wir sollen nach Maximen handeln, von denen wir wollen, dass sie allgemeines Gesetz sein könnten, also verbindlich wären auch für alle anderen. Mit diesem Imperativ sollte es keinen Unterschied mehr zwischen den partikularen Gesichtspunkten des Handelns und der Allgemeinheit geben. Wenn möglich also keine Affekte, keine Egoismen, kein Versuch, andere zu instrumentalisieren.

Das ist nicht die empirische Wirklichkeit, in dieser sind wir Zwängen unterworfen, also nicht frei. Das zwingt Menschen zur Lüge. Man konnte es jüngst wieder bei Alexander Dobrindt in der Talkshow von Maybrit Illner beobachten. Körperlich konnte er es nicht ertragen, die neue Vorsitzende der Grünen, Franziska Brantner, Robert Habeck loben zu hören. Er verzog das Gesicht, die Finger bewegten sich heftig, der Oberkörper schüttelte sich. Dann unterbrach er sie mit dem Satz, mit dem Männer mittlerweile ihr Einverständnis mit feministischer Kritik an männlichem Redeverhalten dokumentieren: »Ich will Sie gar nicht unterbrechen«, um dann auszuholen, wie sehr die Ampel-Koalition versagt habe.

Alex Demirović

Alex Demirović stammt aus einer jugoslawisch-deutschen Familie; der Vater wurde von den Nazis als Zwangsarbeiter verschleppt. Wegen eines politisch motivierten Vetos des hessischen Wissenschaftsministeriums durfte Demirović in Frankfurt nicht Professor werden. Seitdem bewegt er sich an der Schnittstelle von Theorie und Politik. Jeden vierten Montag im Monat streitet er im »nd« um die Wirklichkeit.

Wäre, was er sagte, einem zeitgleichen Faktencheck unterzogen worden, die meisten seiner Äußerungen hätten sich als Lüge erwiesen. So ging es als Meinung und Diskussionsbeitrag durch. Aber er muss so reden, weil er glaubhaft machen will, dass noch die dümmlichsten Interessen, die er vertritt, Allgemeinheit besitzen. Er weiß ja, was er tut, er war CSU-Verkehrsminister. Es liegt die Schlussfolgerung auf der Hand, Kant ist nicht hilfreich. Es ist wünschenswert, dass die Individuen ihr Handeln am verallgemeinerten Anderen, also der Menschheit ausrichten, aber es kann ihnen nicht gelingen. Das Allgemeine ist ihnen nicht zugänglich, es ist schwere moralische Last, mit dem eigenen Handeln jeweils die Brücke zur Menschheit zu schlagen. Die Verhältnisse geben es nicht her. Sie müssten geändert werden, damit das Reich der Freiheit auch in der empirischen Wirklichkeit gilt.

Das war deswegen der Marx’sche Vorschlag zu einem kategorischen Imperativ: alle Verhältnisse umzuwerfen, unter denen die Menschen erniedrigte, geknechtete, verlassene, verächtliche Wesen sind. Das ist deutlich konkreter als der Vorschlag von Kant. Es sind die Verhältnisse, die wir heute haben.

Aber noch ist nichts gelöst. Denn dieser kategorische Imperativ führt zu einem Streit darüber, wer erniedrigt, verlassen, verächtlich ist. Sind es die schlecht bezahlten Arbeiter*innen, die alleinerziehenden Mütter, die Frauen, die Gewalt erfahren, diejenigen, die daran gehindert werden, ihren religiösen Überzeugungen zu folgen, die, die gezwungen werden, sich impfen zu lassen, die Angehörigen der bürgerlichen Klasse, die sich selbst und anderen entfremdet sind und sich angesichts ihres Reichtums in ihrer Sicherheit bedroht fühlen?

Sind es die von den Nazis verfolgten und ermordeten Juden, die von den Osmanen ermordeten Armenier, die von der wilhelminischen Armee in die Omaheke-Wüste getriebenen Herero, die Indianer (!) Nordamerikas? Welche Verhältnisse müssten über den Haufen geworfen, beseitigt und überflüssig gemacht werden? Der Kapitalismus, das Patriarchat, die rassistischen Verhältnisse? Und was ist mit den Tieren und Pflanzen, die Marx hier noch gar nicht anspricht? Der Streit setzt sich darüber fort, wer das größere Leid erfahren hat. Dabei gehen die Gesichtspunkte der Besonderheit ebenso wie der Allgemeinheit leicht verloren: die besonderen Menschen, alle Verhältnisse.

Der dritte kategorische Imperativ wurde von Theodor W. Adorno vorgeschlagen: Auschwitz oder Ähnliches sollte sich nicht wiederholen. Auschwitz markiert einen historischen Wendepunkt der bürgerlichen Gesellschaft. Diese wollte Vernunft und Menschenrechte zur Geltung bringen, eine Kultur, an der alle als freie Bürger und Bürgerinnen teilhaben können sollten, eine jede und ein jeder sollten die Möglichkeit haben, ihr Glück und ihre Freiheit zu verfolgen.

Doch die Verhältnisse wurden nicht umgeworfen. Die, die Jahre und Jahrzehnte lang die Demokratie ablehnten, Aufklärung als Asphaltliteratentum gebildeter urbaner Mittelschichten abtaten, die Arbeiter in der Ukraine, in Finnland, in München und im Ruhrgebiet massakriert hatten, bereiteten die Katastrophe vor. In Deutschland und unter Mithilfe vieler Akteure in Europa setzte die bürgerliche Gesellschaft die Wissenschaften, die Philosophie, die staatlichen Verwaltungen, die Unternehmen, das Recht und die Gerichte dafür ein, geplant und gezielt einen Massenmord zu organisieren an Juden, an Slawen, an Sinti und Roma, an Menschen mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung, an sexuellen Minderheiten – an allen denjenigen, die als Feinde einer aufgezüchteten, reinen, deutsch-arischen Herrenrasse markiert wurden. Die Angst vor der Differenz, die wahnhafte Projektion auf die, die anders wären, eine Gesellschaft ohne Flüchtlinge, Fremde, Migranten bestimmte das Handeln. Die Katastrophe fand irreversibel statt.

Das meint Adorno, wenn er vom kategorischen Imperativ spricht. Alle Verhältnisse, unter denen solche Brutalität, Gewalt, Niedertracht, Folter, Krieg sich entfalten können, zu verhindern. Adorno dachte an den Völkermord an den Armeniern. Er dachte auch an die Katastrophe des Abwurfs der Atombomben, also die Gefahr eines Nuklearkrieges. Auschwitz – darunter verstand Adorno die bürgerliche Entfesselung der Gewalt, die Steigerung der Produktivkräfte des Tötens. Er nennt die Folter, wie sie von der US-Army im Vietnam-Krieg eingesetzt wurden.

Trotz dieser drei kategorischen Imperative haben die Katastrophen stattgefunden und finden weiterhin statt. Die Resolution des Deutschen Bundestags zum Schutz jüdischen Lebens, die ein »Nie wieder ist jetzt« fordert, ist einseitig, partikularistisch, wenn sie allein den Schutz jüdischen Lebens einklagt, und fällt weit hinter Kant, Marx und Adorno zurück. Die Chiffre Auschwitz ernst genommen bedeutet einen enormen moralischen Anspruch: »Nie wieder ist jetzt« sollte die vielen umfassen, die von rassistischen Attacken, Krieg, Vertreibung und Folter betroffen sind. Es sollte bedeuten, alles dafür zu tun, dass dies zivilisationsgeschichtlich endlich einmal aufhört.

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