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- Die gute Kolumne
Wer kann die Pyramiden überstrahlen?
Von Dingen, die immer da sind: bedeutende Architektur, große Kunst und eine Berliner Baustelle
»Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei«, lautet eine Behauptung, die der Schlagersänger Stephan Remmler in den 80er Jahren aufgestellt hat. Das Problem ist: Sie stimmt nicht. Es existieren Dinge, die kein Ende haben. Die immer da sind. Die nie verschwinden. Man findet sie überall. In der Natur, in der Kunst, in der Architektur. Und in Berlin-Neukölln. Ich kann es beweisen.
Wasser zum Beispiel: Wasser war immer da. Wenn der Kapitalismus enden würde, würde es nicht versiegen. (Jetzt, wo Großkonzerne seit Jahren damit beschäftigt sind, weltweit sämtliche Wasservorkommen zu privatisieren, ist es natürlich nur eine Frage der Zeit, bis es verschwindet und nur gegen Barzahlung wieder auftaucht, aber davon handelt diese Kolumne nicht, weswegen wir das Thema an dieser Stelle nicht weiter ventilieren wollen.)
Oder man denke an das sogenannte Schweinebild auf der indonesischen Insel Sulawesi. Auch das war immer da. Wenigstens während der vergangenen 45 000 Jahre, was ja nun wirklich eine sehr ausgedehnte Zeitspanne ist. So lange musste man bisher selbst in Berlin nicht auf den Bus warten. Weswegen mir in diesem Fall die etwas saloppe Verwendung des Begriffs »immer« erlaubt sei: Das »Schweinebild« war immer da.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Kurze Erklärung für die, die nie davon gehört haben: Es handelt es sich um ein prähistorisches Wandgemälde, eines der ältesten Kunstwerke der Welt, von denen man weiß. Es zeigt ein Schwein und zwei Hände, die aussehen, als näherten sie sich dem Schwein nicht mit den besten Absichten. (Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich nicht dafür verantwortlich bin, wenn beim vorigen Satz jemand an Friedrich Merz denkt.) Dass das erstaunlich gut erhaltene Wandbild, das sich über so viele Jahrtausende als unverwüstlich erwiesen hat, demnächst zu existieren aufhört, davon ist nicht auszugehen.
Ein weiteres Beispiel für zähe Haltbarkeit: der Göbekli Tepe (deutsch: »bauchiger Hügel«) in der Türkei, die älteste bekannte Tempelanlage der Welt, errichtet vor immerhin 11 000 Jahren. War seither immer da. Wird sich in nächster Zeit wohl nicht in Luft auflösen.
Das sind so Dinge, deren Existenz nicht endet: Wasser, Kunst, bedeutende Bauwerke.
Apropos bedeutende Bauwerke: Der große Dichter Peter Hacks bedichtete einst, im Jahr 1998, die Berliner Mauer, die zwei Enden hatte, obwohl sie keine Wurst war. (Womit, aber das nur nebenbei, der eingangs erwähnte Stephan Remmler einer zweiten Lüge überführt wurde.) In dem Gedicht heißt es: »Wer kann die Pyramiden überstrahlen? / Den Kreml, Sanssouci, Versailles, den Tower? / Von allen Schlössern, Burgen, Kathedralen / Der Erdenwunder schönstes war die Mauer. / Mit ihren schmucken Türmen, festen Toren. / Ich glaub, ich hab mein Herz an sie verloren.«
Doch der Mauer war ein frühes Ende beschieden. Sie wurde kaum älter als Janis Joplin und Jimi Hendrix. Wie diese wurde sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere dahingerafft. Wohingegen bei den anderen von Hacks angeführten Bauten vorerst nicht damit zu rechnen ist, dass ihre Existenz endet.
Was ebenfalls kein Ende hat: die Baustelle Karl-Marx-Straße/Ecke Schönstedtstraße in Berlin-Neukölln. Die ist auch immer da. Und verschwindet voraussichtlich nie. Von einer unscheinbaren kleinen Delle im Straßenpflaster, vor der ein einsamer Verkehrsleitkegel platziert war, hat sie sich im Lauf der Jahre zu einer stattlichen Ansammlung von Baustellenfahrzeugen, Bauzäunen, Blechschildern, Absperrgittern, Warnleuchten, Baugruben, Erdlöchern, Erdklumpen, Werkzeughaufen, Betonbrocken und freiliegenden Rohrleitungen gemausert, die sich, einem unberechenbaren und tückischen Organismus gleich, auf beunruhigende Weise und rhizomartig in sämtliche Richtungen ausbreitet.
Zugegeben: Sie ist zurzeit noch keine 45 000 Jahre alt, aber für jemanden, der in der Gegend wohnt, fühlt es sich so an. Mit der indonesischen Höhle, auf deren Wand das Schweinebild gemalt worden ist, hat die Neuköllner Baustelle dennoch etwas gemeinsam: Menschliches Leben ist dort schon lange nicht mehr zu finden. Und ein »bauchiger Hügel« ist sie in gewisser Weise auch. Wenn sie sich so weiterentwickelt wie bisher, ist nicht völlig auszuschließen, dass man sie in 11 000 Jahren für Reste einer Tempelanlage halten wird. Doch bleiben wir bescheiden: Gegenwärtig hat sie immerhin gute Chancen, die Lebensdauer der Berliner Mauer zu übertreffen.
Ich bin mir nicht sicher, welche Art Mahnmal die Baustelle Karl-Marx-Straße/Ecke Schönstedtstraße in einer besseren Zukunft sein wird: eines, das an den Terror der automobilisierten Welt erinnert, oder eines zum Gedenken an die Dysfunktionalität der Berliner Variante des Kapitalismus.
Aber mir kommt der wunderbare Satz in Erinnerung, den Lee Clare, seines Zeichens Referent für prähistorische Archäologie am Deutschen Archäologischen Institut, in einem Interview sagte, in dem er von dem Ort sprach, an dem sich der Göbekli Tepe befindet: »Egal, wo man auf dem Gelände ein Loch gräbt, meistens kommt etwas Tolles dabei raus.«
Das kann man von der Neuköllner Karl-Marx-Straße nicht behaupten. So viel ist jedenfalls sicher.
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