- Berlin
- Obdachlosigkeit
Straßenjugendliche in Berlin: Eine »Butze« für den Neuanfang
Das Straßenkinderhaus in Lichtenberg feiert Richtfest – und ist europaweit einzigartig
Ein wenig Fantasie ist aktuell noch nötig, um sich die Notübernachtungsräume im geplanten Straßenkinderhaus unweit vom S-Bahnhof Lichtenberg vorzustellen. Im zweiten Stock des Rohbaus sind schon mehrere schmale Zimmer eingezogen. Die nackten Wände und Decken sind noch in Grau gehalten, statt Fenstern gibt es aktuell nur Lücken in den Außenwänden. Für die Wärme, die die Zimmer zukünftig spenden sollen, sorgen aktuell noch Heizstrahler, die für die Besucher des Richtfests aufgestellt wurden.
Ab 2026 sollen 17 junge Obdachlose hier übernachten können. »Hier können die Leute für sich sein, sicher sein«, sagt Isabell Baumann, während sie durch die Räume führt. Sie ist Pressesprecherin des Vereins Straßenkinder e.V., der hinter dem »Butze« genannten Straßenkinderhaus steht. Im Unterschied zu anderen Unterkünften sollen in der Notübernachtung Einzelzimmer angeboten werden: Ein paar Stunden Ruhe und Privatsphäre für Jugendliche, die sich sonst permanent in der Öffentlichkeit aufhalten müssen. Von 21 Uhr abends bis 9 Uhr morgens soll die Notübernachtung nach den Plänen von Straßenkinder e.V. geöffnet sein. Drogen und Waffen sind verboten, Hunde dagegen erlaubt – auch das ein Unterschied zu vielen anderen Notunterkünften.
Was die »Butze« von anderen Notunterkünften unterscheidet, ist, dass das Angebot hier nicht endet. Im Stockwerk über der Notübernachtungsstelle sollen Übergangswohnungen entstehen, in denen wohnungslose Jugendliche für drei bis sechs Monate untergebracht werden können. Im vierten Stock sollen Microappartments eingerichtet werden, die sogar mittelfristig stabile Wohnverhältnisse bieten sollen. So viele unterschiedliche Wohnungsformen unter einem Dach – »nach unseren Recherchen ist das mindestens deutschlandweit, wenn nicht sogar in Europa einzigartig«, sagt Isabell Baumann. Am Ende soll es insgesamt 40 Schlafplätze in den verschiedenen Wohnformen geben.
Heranführen an reguläre Wohnverhältnisse
Die räumliche Nähe soll den Jugendlichen erleichtern, den Weg zu geordneten Wohnverhältnissen zurückzufinden. »Man kann Wohnen verlernen«, sagt Eckhard Baumann, der Vorsitzende von Straßenkinder e.V., der von den meisten hier nur »Ecki« genannt wird. Mit dem Leben auf der Straße gingen Routinen verloren. Körperpflege, Behördenbriefe, selbst Nahrungsaufnahme – wenn jeder Tag ein Kampf ums Überleben ist, bleibe dafür oft wenig Zeit. »Das Gute ist: Man kann Wohnen auch wieder neu lernen«, sagt Eckhard Baumann. Das Konzept des Straßenkinderhauses erlaube, die jungen Obdachlosen Stück für Stück wieder an reguläre Wohnverhältnisse heranzuführen, ohne die Brüche, die es beim Wechsel zwischen verschiedenen Institutionen häufig gibt.
nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.
Dass künftig Wohnen und Sozialarbeit unter einem Dach stattfinden wird, werde Reibungen reduzieren, meint Isabell Baumann. Aktuell kämpfe man etwa oft mit dem Problem, dass Jugendliche zu vereinbarten Terminen bei Behörden nicht erschienen und auch nicht auffindbar seien. Hoffnung gibt ihr, dass Straßenkinder e.V. bereits jetzt im Rahmen der Straßensozialarbeit 50 Jugendliche im Jahr in stabile Wohnungsverhältnisse vermittelt.
Auch das ist besonders am Straßenkinderhaus: Neben Übernachtungsmöglichkeiten sollen auch andere Angebote unter demselben Dach unterkommen. Im zweiten Stock sind Beratungsangebote geplant. »Das Ziel ist, die Jugendlichen in Sicherungssysteme zu vermitteln«, sagt Pressesprecherin Isabell Baumann. Einen Personalausweis oder Bürgergeld beantragen, einen Schulplatz finden, eine Therapie anfangen – all das sollen 30 Mitarbeiter direkt im Haus unterstützen. »Im Straßenkinderhaus soll es möglich sein, in einem sicheren Raum zu überlegen, wie es mit dem eigenen Leben weitergeht«, sagt Isabell Baumann. Mit einem breiten Beratungsangebot wolle man das abbilden. Auch medizinisches Personal und Köche sollen am Ende in den Räumlichkeiten arbeiten.
»Man kann Wohnen verlernen.«
Eckhard Baumann Straßenkinder e.V.
Dazu kommen Freizeitangebote: Im Erdgeschoss soll künftig im Foyer eine kleine Bühne stehen. Eine Theatergruppe soll hier nach dem Willen der Betreiber künftig kleinere Stücke aufführen. Auch für Sportangebote soll der große Raum im Erdgeschoss genutzt werden. Im Keller sollen Bandproberäume eingerichtet werden. »Viele Straßenjugendliche glauben nicht mehr an sich«, sagt Isabell Baumann. Mit den Projekten könnten sie wieder Selbstbewusstsein entwickeln. »Das sind kleine Erfolgserlebnisse, die sie sonst nur selten im Leben haben.«
Nach Schätzungen sind etwa 1000 der 6000 Berliner Obdachlosen junge Menschen unter 26. Auch Rocco und Mary gehören zu ihnen. Die beiden jungen Menschen, die vor kurzem erst die Volljährigkeit erreicht haben, haben sich zum Richtfest unter das Publikum gemischt. Mit ihren Tattoos und Piercings stechen sie unter den mehrheitlich aus Politik und Wirtschaft stammenden Gästen heraus. Rocco ist seit zweieinhalb Jahren wohnungslos. Auf die Frage, warum, antwortet er: »Weil meine Eltern scheiße sind.« Mary lebte zuletzt in einer Jugendhilfeeinrichtung, bevor sie vor drei Jahren auf der Straße landete. Aktuell komme sie bei ihrer Schwester unter, berichtet sie.
»Das Wichtigste ist, dass du auf der Straße nie allein bist«, sagt Rocco. So habe immer jemand ein Auge auf einen und bemerke, wenn man Drogen überdosiere oder in der Kälte einschlafe. Mit Unterkünften, die sich an Wohnungslose aller Altersgruppen richten, haben sie keine guten Erfahrungen gemacht. »Es gibt viele seltsame Leute«, sagt Mary. Immer wieder komme es zu Diebstählen, vor allem Frauen müssen sich vor sexuellen Übergriffen fürchten. »Das tue ich mir nicht an«, sagt Mary.
Großteil zwischen 15 und 22 Jahre alt
In Berlin gibt es zwar ein relativ breit gefächertes Netzwerk von Übergangswohnungen und -WGs für junge Wohnungslose, aber nur wenige Notübernachtungen, die sich spezifisch an diese Klientel richten. Minderjährige Wohnungslose können in den Räumen des Kinder- und Jugendnotdienstes übernachten, ansonsten gibt es nur eine Notübernachtungsstelle mit 18 Schlafplätzen, die sich an junge Menschen richtet. »Manchmal ist es da voll«, sagt Rocco. Wer dann nicht in eine Notunterkunft ohne Altersbeschränkung gehen will, dem bleibe nur noch »Platte machen« – also das gemeinsame Campieren mit anderen Obdachlosen.
»Junge Menschen sind eine vulnerable Gruppe«, sagt Pressesprecherin Isabell Baumann. In Notübernachtungen ohne Altersbeschränkung erfuhren sie häufig Gewalt. »Viele wollen sich auch nicht mit Obdachlosen identifizieren«, sagt Baumann. Auch deswegen habe man sich entschlossen, ein Angebot zu schaffen, dass sich explizit an Straßenjugendliche richte. Für alle Angebote werde eine Altersgrenze von 26 Jahren gelten. Der Großteil der Straßenjugendlichen, die man im Rahmen der Straßensozialarbeit betreue, sei zwischen 15 und 22 Jahren alt. Wirkliche Straßenkinder im Wortsinne gebe es nur sehr wenige in Berlin.
Rocco und Mary hoffen, dass sie das Straßenkinderhaus nie als Klienten betreten werden, weil sie es bis zur Fertigstellung 2026 schon von der Straße geschafft haben. Mary will ihren Schulabschluss nachholen und anschließend eine Ausbildung beginnen. Roccos Pläne sind weniger fix. »Ich konzentriere mich darauf, durch den Tag zu kommen«, sagt er.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.