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Kinderarmut geht alle an
Kommunalpolitisches Forum Berlin veröffentlicht neuen Sammelband zu Handlungsstrategien
»Kinderarmut ist mehr als nur ein individuelles Schicksal – sie ist ein gesellschaftliches Problem. Sie zeigt, dass unsere sozialen Sicherungssysteme Lücken haben, durch die die Schwächsten fallen. Sie ist ein Spiegelbild der Ungleichheiten, die im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und im Zugang zu Gesundheitsversorgung bestehen«, schreibt Michael Grunst im Vorwort von »Alle Kinder brauchen Zukunft«. Es ist ein Sammelband zu kommunalen Handlungsstrategien gegen Kinderarmut, herausgegeben von Lutz und Petra Brangsch für das Kommunalpolitische Forum Berlin.
Michael Grunst ist Vorsitzender des Forums. Er ist auch Präsident des Sportvereins Lichtenberg 47, in dem rund 700 Kinder aus unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen trainieren. Was Grunst nicht mehr ist: Bezirksbürgermeister von Lichtenberg. Nach sieben Jahren im Amt konnte er sich nach der Wiederholungswahl von Februar 2023 nicht mehr halten, weil seine Linkspartei zu viele Stimmen eingebüßt hatte.
Bezirksbürgermeister außer Dienst darf er sich noch nicht nennen. Das wäre er vielleicht nach der nächsten regulären Wahl im Jahr 2026. Wie darf er sich nun einstweilen nennen, solange ihn das Land Berlin vorerst weiter bezahlt? Der 54-Jährige zuckt die Schultern: »Ich weiß es nicht!«
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Was er aber ganz genau weiß: »Die Frage ist nicht, ob wir uns Kinderarmut leisten können, sondern vielmehr, ob wir es uns leisten können, nichts dagegen zu unternehmen. Denn die Kosten der Untätigkeit sind weit höher als die Investitionen, die nötig sind, um Kinderarmut nachhaltig zu bekämpfen.«
In Lichtenberg seien besonders oft alleinerziehende Mütter und deren Kinder arm, erzählt Grunst. Diese Frauen finden häufig keine gut bezahlte Arbeit, selbst wenn sie Kitaplätze für ihre Kleinen haben. Nicht selten haben diese Mütter keinen Schulabschluss gemacht oder keinen Beruf erlernt. Wenn ihnen ermöglicht werde, dies noch nachzuholen, können sie mehr verdienen und sind nicht mehr auf Stütze vom Staat angewiesen. In Lichtenberg bemühten sich Bezirk und Arbeitsagentur um solche Lösungen.
Ursachen und Auswirkungen von Kinderarmut sind lange bekannt. Herausgeber Lutz Brangsch ist bei seinen Recherchen für das Buch auf eine Broschüre aus dem Jahr 1978 gestoßen. Damals habe man im Westen schon vor denselben Schwierigkeiten gestanden. »Die Annahme, dass es sich um ein systemisches Problem handelt, scheint durchaus berechtigt zu sein«, sagt der Volkswirtschaftler.
»Die Kosten der Untätigkeit sind weit höher als die Investitionen, die nötig sind, um Kinderarmut nachhaltig zu bekämpfen.«
Michael Grunst Ex-Bezirksbürgermeister
»Ich sehe das mit großem Erschrecken, wie hoch die Kinderarmut hier in Berlin ist«, gesteht Mitautorin Andrea Möllmann-Bardak. Jedes vierte Kind sei betroffen. Je nach Wohngebiet schwankt die Quote. In einzelnen Kiezen schnellt sie hoch auf bis zu 70 Prozent. Es brauche eine auskömmliche Finanzierung für alle Hilfsangebote – aber das sieht Möllmann-Bardak angesichts aktueller Sparpläne von Finanzsenator Stefan Evers (CDU) mit großer Sorge. Das sei beim Schreiben des Buches noch nicht abzusehen gewesen.
Ganz ähnlich sieht es Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Sie sagt zu einzelnen Sparmaßnahmen Sätze wie: »Dass es auf null gesetzt wird, ist ein Eklat!« Wenn die Kürzungen nicht zurückgenommen werden, müsste es in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu betriebsbedingten Kündigungen kommen. Schlimper kann die drastischen Einschnitte nicht nachvollziehen. Es sei doch bekannt, wie groß die Gefahr ist, dass aus armen Kindern arme Erwachsene werden, für deren Lebensunterhalt dann weiterhin der Staat aufkommen müsse. Dass 90 Stellen bei der Schulsozialarbeit gestrichen werden. »Da fällt mir nun gar nichts mehr dazu ein«, sagt Schlimper.
Sie zählt einige Beispiele für kurzsichtige Kürzungen auf, darunter ein Projekt, in dem sich darum gekümmert werde, dass Kinder ihre im Gefängnis einsitzenden Eltern besuchen können, damit die familiäre Bindung nicht abreißt. So ein Besuch im Knast kann aber ein traumatisches Erlebnis werden. Dass es anders läuft, darum kümmern sich sensible Begleiter. Die müssen jedoch dafür bezahlt werden.
Oder ein anderes Beispiel, wo Kinderarmut verhütet werden kann, wenn rechtzeitig gehandelt wird. Junge Frauen müssten wegen Sparmaßnahmen künftig vier bis fünf Monate auf einen Termin bei der Schwangerschaftsberatung warten. Sie bräuchten ihn aber innerhalb von zwölf Wochen, um sich für oder gegen eine Abtreibung zu entscheiden. Schlimper schüttelt enttäuscht den Kopf und sagt: »Damit treiben wir die Menschen da draußen in die Arme der Populisten.«
Lutz und Petra Brangsch (Hrsg.): »Alle Kinder brauchen Zukunft«, 199 S., Schutzgebühr: 10 €; Kommunalpolitisches Forum Berlin
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