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Ding Liren und die »Folter« am Brett gegen Dommaraju Gukesh
Der chinesische Titelverteidiger strapaziert bei der Schach-WM nicht nur die Nerven seines Gegners
Wenn Ding Liren nicht weiter weiß, bewegt er sich in ganz unterschiedliche Richtungen. Die Schultern wandern vor und zurück, die Hände presst er nach unten auf die Oberschenkel, sein Oberkörper kommt in ein langsames Wippen. Und dabei schaut der Chinese immer wieder nach oben, um herauszufinden, was sein Gegner denkt. Nach Spiel acht bei dieser Schach-WM wurde er gefragt, wie es sich anfühlt, in Singapur um den Titel zu spielen. Mit seiner zarten Stimme antwortet er: »Es ist vor allem Folter.« Dabei strich er sich mit der Hand gedankenverloren über die Wange.
Das Leiden wird noch eine Weile weitergehen, nach der neunten Partie am Donnerstag steht es nach wie vor unentschieden zwischen dem Chinesen und dem stoischen Rechengenie Dommaraju Gukesh aus Indien. Maximal vierzehn klassische Partien werden sie spielen, im folgenden Zeitformat: 120 Minuten bis Zug 40, danach noch einmal 30 Minuten plus 30 Sekunden pro Zug. Für einen Sieg gibt es einen Punkt, bei einem Remis bekommt jeder einen halben. Gewonnen hat, wer am schnellsten 7,5 Punkte erreicht. Sollte der Spielstand bis zum Schluss ausgeglichen bleiben, entscheidet ein Tiebreak im schnelleren Format über Sieg und Niederlage.
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Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es soweit kommt. Zwar hat Titelverteidiger Ding Liren in den vergangenen Spielen fürwahr gelitten – weit mehr, als die Schachwelt es vermutet hatte. Doch er hat sich auch stark reingebissen ins Turnier. Nach seinem spektakulären Gewinn mit Schwarz in der ersten Partie, einem ziemlich langweiligen Draw in der zweiten und einer krachenden Niederlage in der dritten, hatte Ding Liren dann viermal mindestens eine, wenn auch nicht entscheidend vorteilhafte, so doch vielversprechende Position auf dem Brett. Aber wählte dann jedes Mal die Option des Bailouts, statt zu viel zu riskieren – und nahm so die Unentschieden mit.
Dieser Verlauf ist auch dem Umstand geschuldet, dass bis Spiel sechs die Genauigkeit der Züge beider Kontrahenten die bisher höchste bei einer Weltmeisterschaft gemessene war. Das änderte sich ab Spiel sieben, als Gukesh seinen Gegner mit einer völlig neuen Variante in der Grünfeld-Verteidigung überraschte und über weite Teile des Spiels Ding Liren am Rand der Niederlage hatte. In fast jeder Konstellation, die in der anschließenden Pressekonferenz besprochen wurde, seufzte der Chinese und sagte, er habe das Gefühl gehabt, seine Stellung sei »völlig hoffnungslos« gewesen.
Doch Ding Liren fand einen Ausweg aus dem dunklen Wald, in den Gukesh ihn geführt hatte – und erreichte ein Remis, dass sich psychologisch wie ein Sieg angefühlt haben muss. Auch in Spiel acht dominierte der Inder lange das Geschehen. Aus der Eröffnung heraus stand er deutlich besser und hatte zwei verbundene Freibauern auf dem Damenflügel, übersah dann aber ein kleines, feines Damenmanöver, dass Ding Liren tatsächlich noch die Stellung rettete.
Für den Titelverteidiger war bisher jede Partie dieses WM-Matches ein Seiltanz, weil sein Zeitmanagement selbst für neutrale Zuschauer*innen nervenzerfetzend ist. Regelmäßig verbraucht er eine Viertelstunde für Stellungen, die offensichtlich erscheinen, gerät dann in Bedrängnis und muss in fast aussichtslosen Lagen innerhalb von wenigen Minuten oder gar Sekunden mit computerhafter Präzision Züge finden, die ihn irgendwie noch retten können.
Die zwar elegante aber unspektakuläre neunte Partie, in der sich beide aus einer Catalan kommend gegenseitig nicht wehtun konnten, brachte am Donnerstag mal einen anderen Verlauf. Ding Lirens generelles Kalkül scheint aber zu sein, nicht zwingend auf Gewinn zu spielen, sondern so lange wie möglich im Match zu bleiben, um den psychologischen Druck auf den Gegner zu erhöhen. Denn Gukesh kam als großer Favorit nach Singapur – und bleibt mit jedem Unentschieden etwas unter den Erwartungen. Und diese sind groß, in Indien ist er bereits eine Art Popstar.
Sollte das Match bis zum Ende ausgeglichen bleiben und in den Tiebreak gehen, wäre wohl Ding Liren der Favorit: So stark Gukesh mit seinen vielleicht einzigartigen Rechenkünsten im klassischen Schach ist, in schnelleren Formaten gehört er nicht zur absoluten Weltspitze.
Unterdessen reißen die Diskussionen nicht ab, was diese WM ist, wenn am Ende nicht der stärkste Spieler den Titel gewinnt. Doch angesichts des bisherigen Matchverlaufs erübrigt sich diese Frage. Der Modus entwickelt eine Spannung, an die andere Formate nicht heranreichen – und die von einem Spieler wie Ding Liren als Folter empfunden wird. Allerdings gibt es für die Qualen mit einem Preisgeld von 2,5 Millionen Dollar eine ordentliche Entschädigung.
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