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Die Medaillenverrechner der Potas-Kommission
Die viel kritisierte Kommission hat ihre neue Potenzialanalyse für den Spitzensport vorgestellt – und Verbesserungen versprochen
Es ist das Unwort im deutschen Leistungssport, bei dem die Verbandspräsident*innen vom Basketball bis zur Leichtathletik instinktiv nervöse Zuckungen kriegen: Potas – die Kurzform für Potenzialanalyse. Dabei sollte mit der 2017 ins Leben gerufenen Potas-Kommission unter der Leitung des Sportwissenschaftlers Urs Granacher alles besser werden. Mithilfe einer statistisch fundierten Evaluation aller Spitzenverbände und ihrer Athlet*innen sollten die Steuergelder, die jedes Jahr in den Spitzensport fließen, objektiver und erfolgsorientierter verteilt werden. Vorbei sein sollten die Zeiten, in denen der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und das Bundesinnenministerium im Hinterzimmer über die Sportförderung entscheiden.
Eigentlich sollte das im Interesse aller Verbände sein, insbesondere der erfolgreichen. Trotzdem polterte Ingo Weiss, der Präsidenten des zuletzt überaus erfolgsverwöhnten Deutschen Basketballbundes (DBB): »Potas tut dem deutschen Sport absolut nicht gut. Das muss auch nicht mehr überarbeitet werden, bitte einfach abschaffen.« Der Basketball-Funktionär äußerte seine Kritik gegenüber der Deutschen Presse-Agentur pünktlich zum Erscheinen des neuen Potas-Berichts für die Sommersportverbände am vergangenen Montag und erneuerte damit seinen Unmutsbekundungen aus dem September 2023.
Schwachstellen im ersten Bericht
Da waren die deutschen Basketballer gerade zum ersten Mal Weltmeister geworden. Obwohl der erste Potas-Bericht für die Sommersportarten aus dem Jahr 2021 dem DBB von allen deutschen Verbänden das geringste Potenzial für Medaillen berechnet hatte. Schon danach war sich DBB-Chef Weiss sicher, dass die Potenzialanalyse Quatsch sei. Dass dann in diesem Sommer auch noch die DBB-Frauen bei ihrer ersten Olympiateilnahme gleich Platz sieben erreichten, die 3x3-Basketballerinnen in Paris sensationell Gold holten und die Männer nur knapp an einer Medaille vorbeischrammten, lässt tatsächlich kaum einen anderen Schluss zu, als dass die Potas-Kommission bei einigen errechneten Potenzialen deutlich daneben lag.
Dabei muss man zur Verteidigung der Potenzialanalyse auch sagen, dass sie sich zu einem Drittel auf die erreichten Erfolge der Vorjahre stützt – und hier sah es vor dem WM-Titel der Männer lange mau aus für den DBB. Die am Montag vorgestellte, neue Potenzialanalyse mit Blick auf Olympia 2028 in Los Angeles liest sich dementsprechend schon deutlich anders: Die 3x3-Basketballerinnen liegen jetzt auf Platz neun von 99 untersuchten Disziplinen, die Basketball-Männer auf Rang 15 und die DBB-Frauen auf Platz 44. Ganz vorne stehen die Dressurreiter*innen, die Hockeynationalmannschaft der Männer und die Kajakfahrer. Der Deutsche Leichtathletikverband, dem im letzten Potas-Bericht noch die größten Medaillenchancen zugerechnet wurden, befindet sich nur noch in den Disziplinen Springen und im Mehrkampf der Männer unter den Top 25. Ganz hinten stehen die Abteilungen Wasserball, Gewichtheben und Taekwondo.
Dressurreiten ganz oben, Taekwondo ganz unten
Die neue Rangliste spiegelt damit die deutschen Ergebnisse der Sommerspiele von Paris wider, soll aber trotzdem kein reines Belohnungssystem für vergangene Erfolge sein. Deswegen werden noch zwei weitere sogenannte »Säulen« in der Potenzialanalyse untersucht, die deutlich schwieriger zu erfassen sind, als die Auflistung wer, in welchem Sport, in den vergangenen Jahren eine gute Platzierung erreicht hat. Auch das Kaderpotenzial innerhalb der einzelnen Disziplinen und die Verbandsstrukturen etwa im Nachwuchsmanagement wurden erneut von der Potas-Kommission bewertet. Und hier wurde im Vergleich zum ersten Bericht von vor drei Jahren ordentlich nachjustiert.
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Einerseits wurde beschlossen, dass die Verbandsstrukturen zukünftig nicht mehr Teil der Potenzialanalyse sein sollen. Eine Onlinebefragung mit 130 Fragen plus angeforderter Belege war zu viel bürokratischer Aufwand für die Verbände. Außerdem kommt der aktuelle Potas-Bericht zu dem Schluss, dass in allen deutschen Spitzensportverbänden inzwischen auf einem ähnlich hohen Level professionell gearbeitet wird, sodass es immer schwerer wird, die Verbände danach zu unterscheiden. Das Innenministerium versicherte bei der Vorstellung des Berichts in Berlin aber, dass die Verbandsstrukturen auch weiterhin kontrolliert werden, nur eben nicht mehr durch die Potas-Kommission.
Datenbasierte Analyse statt sportlicher Expertise
Bereits grundlegend verändert wurde die Bewertung des Kaderpotenzials. 2021 verließ sich die Analyse noch auf die Expertise der sportlichen Leitung der einzelnen Verbände, die selbst einschätzen sollten, ob sich Medaillenkandidat*innen in ihren Teams befinden. Daraus ergab sich jedoch eine gewisse Schieflage zwischen Einschätzung und Realität. Deswegen wurde das Kaderpotenzial für den aktuellen Bericht durch ein datenbasiertes Verfahren ersetzt. Dafür hat sich die Kommission in die Datenbank der kalifornischen Firma Gracenote eingekauft, in der über 400 000 Teams und Sportler*innen enthalten sind und täglich die Ergebnisse von Junior- bis zu Elitewettkämpfen eingepflegt werden.
Gracenote berechnet daraus einen sogenannten Elo-Wert, auf dem auch die Schach-Weltrangliste oder das Nationenranking der Fifa beruhen. Basierend auf diesem Wert haben Potas-Leiter Granacher und sein Team berechnet, wie sich die deutschen Athlet*innen im Vergleich zur Weltspitze in ihrer jeweiligen Sportart entwickeln müssten, um 2028 in Los Angeles um die Medaillen mitkämpfen zu können. Vereinfacht ausgedrückt, je größer der Abstand zur Weltspitze, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ein Team oder eine einzelne Person in den kommenden vier Jahren den Sprung unter die Besten drei der Welt schafft, erst recht, wenn die Entwicklung zuletzt nicht steil nach oben zeigte.
Probleme des Spitzensports liegen tiefer
Auch mithilfe der neuen Daten werden sich aber keine Karriereverläufe und Medaillenzahlen vorhersagen lassen, schränkte Granacher bei der Vorstellung des Potas-Berichts ein. Wie schwierig zukünftige Erfolgschancen in Zahlen zu fassen sind, zeigt auch der Blick auf die so hoch eingeschätzten DBB-Teams. Bei den 3x3-Basketballerinnen werden Svenja Brunckhorst (Karriereende direkt nach Olympia) und Sonja Greinacher aufgrund ihres Alters in Los Angeles definitiv nicht mehr Teil des Viererteams sein. Auch DBB-Kapitän Dennis Schröder wird bei den Spielen 2028 kurz vor seinem 35. Geburtstag stehen. Ob bis dahin Franz Wagner bei den DBB-Männern und Elisa Mevius bei den 3x3-Frauen ihre steile Entwicklung fortsetzen, kann niemand vorhersagen – auch Potas nicht.
Das war aber auch nie das Ziel. Die Potenzialanalyse war von Anfang an vor allem ein Instrument, um objektivere Daten für die Förderentscheidungen des Innenministeriums zu liefern. Noch vor einem Jahr kritisierte der Bundesrechnungshof die undurchsichtige Vergabe der 300 Millionen Euro Steuergelder, die 2023 an den deutschen Spitzensport gingen. Wenn die Potas-Kommission hier für etwas mehr Transparenz und Objektivität sorgt, kann das kaum schaden – und wenn dadurch auch noch ein paar alteingesessene Verbandspräsidenten aufgerüttelt werden, umso besser.
Denn auch eine perfekt auf die Erfolgschancen der einzelnen Disziplinen abgestimmte Förderung kann nicht alle Probleme des deutschen Spitzensports lösen. Die liegen tiefer, etwa wenn es um fehlende Trainer*innen geht, um die Vereinbarkeit von Spitzensport und Ausbildung, oder die verschleppte Zusammenlegung von zu vielen kleinen Leistungszentren. Wenn die Verteilung der Fördergelder durch die Potas-Kommission zukünftig zumindest etwas einfacher wird, können sich der DOSB und die Spitzensportverbände schneller den anderen drängenden Problemen widmen, damit die deutschen Athlet*innn in vier Jahren in Los Angeles wirklich ihr ganzes Potenzial abrufen können.
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