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Revolution in Syrien mit Spätzünder
Cyrus Salimi-Asl zum Sturz des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad
Eine Revolution mit Spätzünder: Nach Beginn der ersten Proteste vor mehr als 13 Jahren wird der »Tyrann« diesmal in nur wenigen Tagen hinweggefegt. Niemand hatte damit gerechnet. Der Sturz von Damaskus erinnert an den Fall Kabuls, als die Taliban im August 2021 die Hauptstadt Afghanistans überraschend schnell einnahmen. So wie damals waren diejenigen, die dafür bezahlt werden, realitätskonforme Lagebilder der Situation zu erstellen, entweder schlecht informiert oder schlicht unfähig: Geheimdienste, Medien, Botschaften haben nicht die leisesten Andeutungen gemacht, dass demnächst aus der von den islamistischen Oppositionsgruppen gehaltenen Region Idlib ein Großangriff gegen die syrische Armee gestartet werden könnte und eine Stadt nach der anderen fast kampflos eingenommen würde: zuerst Aleppo, dann Hama und Homs, zuletzt Damaskus.
Sie waren ebenso überfordert zu verstehen, dass diese syrische Armee aufgrund zusammengeschmolzener Loyalität gegenüber dem Präsidenten Baschar Al-Assad offensichtlich kampfesunwillig war. Das, was noch übrig war vom syrischen Regime und seinen Repressionsinstrumenten, war zuletzt nur noch eine mit Luft gefüllte Hülle. Anders lässt sich der Zusammenbruch in rund zehn Tagen nicht erklären.
Fallengelassen von Russland und Iran
Pikanterweise wurde Assad von seinen engsten Verbündeten, Russland und Iran, verraten: Zu mehr als ein paar Bombardements und Ankündigungen, dass man den syrischen Präsidenten »nie« fallen lassen werde, hat es nicht gereicht. In Moskau und Teheran muss es den Regierungen aufgegangen sein, dass Assad nicht zu retten ist und man besser in die Zukunft schaut. Ohnehin sind Moskaus militärische Mittel größtenteils in der Ukraine gebunden, und die iranische Außenpolitik steckt seit Monaten in einer Krise, nachdem wesentliche nichtstaatliche Verbündete wie die Hisbollah schwere Schläge haben einstecken müssen. Die Entsendung iranischer Truppen nach Syrien war ausgeschlossen, und ein paar Militärberater konnten die Lage nicht beeinflussen.
Wie geht es nun weiter? Der Erfolg der oppositionellen Gruppen ist beispiellos, die Freude beim Großteil der Bevölkerung enorm. Nach Libanon geflüchtete Syrer kehren bereits in Massen in ihre zerstörte Heimat zurück. Erste offizielle Verlautbarungen lassen hoffen, dass der Übergang zu einem neuen Syrien tatsächlich ohne weiteres Leid vollzogen werden könnte. Der Anführer der Islamisten-Miliz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS), Abu Mohammad Al-Dscholani, wies seine Kämpfer an, staatliche Institutionen nicht zu beschädigen; er versicherte auch, dass man keine Unterschiede zwischen Religionen oder Ethnien machen werde, alle seien Syrer. Der formal noch amtierende Regierungschef Mohammad Al-Dschalali erklärte in einem Facebook-Video, er sei bereit zur Kooperation mit »jeder Führung, die das syrische Volk bestimmt«, und stehe für jegliche Verfahren zur Machtübergabe bereit.
Fragezeichen hinter Al-Dscholanis Absichten
Bei so viel Harmonie muss man wachsam bleiben, immerhin wurden im Bürgerkrieg eine halbe Million Menschen getötet und Millionen weitere vertrieben. Rachegefühle bei vielen wären nur natürlich. Schwer einzuschätzen ist auch die bewusst zelebrierte Mutation von HTS-Anführer Al-Dscholani, der zuletzt unter seinem richtigen Namen auftrat: vom Radikal-Salafisten aus dem Umfeld des Al-Qaida-Netzwerks zum diplomatischen Staatsmann, der CNN ein Interview über seine Pläne gibt. Zahlreiche Beobachter misstrauen seinen versöhnlichen Worten. Viel wird davon abhängen, wie sich die neuen Machthaber untereinander einigen, was Machttransition und -verteilung angeht. Abgesehen vom Sturz des Assad-Regimes vertreten sie doch auch unterschiedliche Interessen. Negativbeispiele wie Libyen oder der Irak zeigen, wie es nicht funktioniert hat.
Eine weitere Unbekannte sind die externen Einflussmächte, allen voran die Türkei. Die Regierung in Ankara unterstützt die Verbündeten der HTS, schiebt ihnen mutmaßlich auch Waffen zu, hat sie womöglich logistisch vorbereitet für den Sturm auf Damaskus. Darauf deuten Aussagen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hin, auch wenn die Türkei jede Verwicklung in das, was in Syrien geschehen ist, von sich weist. Sollte der Einfluss der Türkei in Syrien stärker wachsen, müssen sich die Kurden und die Autonome Selbstverwaltung Sorgen machen: Ein weitgehend autonomes Nordsyrien mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit in einem von Assad befreiten Syrien will Erdoğan unter keinen Umständen hinnehmen, denn er fürchtet den Modellcharakter für die Kurden in der Türkei.
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