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Saudi-Arabien: Ein Königreich für Sportlerinnen?
Saudi-Arabien will unabhängig vom Öl werden und setzt neben Tourismus und Entertainment auf Sport. Hier haben auch Frauen unverhoffte Freiheiten
Einmal im Jahr finden in Riad die »Saudi Games« statt. Stadien und Hallen in mehreren Stadtvierteln öffnen dann für Wettbewerbe und Jugendbegegnungen. Neben Sportplätzen und Tribünen werden Konzertbühnen und Zelte für Filmvorführungen und E-Sports-Events aufgebaut. Aus den Lautsprechern wummern laute Bässe. Auf den Tribünen klatschen die Familien der Sportlerinnen und Sportler im Takt.
»Vor einigen Jahren waren solche Veranstaltungen in Saudi-Arabien noch undenkbar«, sagt die Kraftsportlerin Amira, die zweimal an den »Saudi Games« teilgenommen hat. »Ich bin sehr, sehr stolz, an diesem Wandel teilhaben zu können.«
Amira ist Mitte 30, ihren vollständigen Namen möchte sie nicht nennen. In ihrer Jugend gab es in Saudi-Arabien keinerlei Sportangebote für Mädchen und Frauen. Über Generationen dominierte der Wahhabismus den Alltag, eine streng konservative Strömung des sunnitischen Islam. Frauen standen unter männlicher Vormundschaft, mussten in Cafés und Einkaufszentren eigene Eingänge benutzen. Kinos oder Konzertsäle blieben geschlossen.
Amira stammt aus einer eher liberalen Familie. Sie ist viel gereist, hat in Japan studiert und dort Freizeit im Fitnessstudio verbracht. »Durch Sport fühle ich mich auch im Alltag stärker«, sagt sie. »Ich wollte das Klischee durchbrechen. Ich möchte beweisen, dass man kräftig und feminin zugleich sein kann.« Sie hätte sich auch ein Leben im Ausland vorstellen können, aber nach ihrem Studium ist sie nach Saudi-Arabien zurückgekehrt. Sie will den Wandel im Land mitgestalten.
Der einst verschlossene Golfstaat Saudi-Arabien will langfristig seine Abhängigkeit von Ölexporten verringern und baut neue Wirtschaftszweige auf. Tourismus, Dienstleistungen, technologische Innovationen. Zur neuen Unterhaltungsindustrie gehören milliardenschwere Investitionen in den Sport: in Formel 1, Boxen oder Golf. Ein neuer Höhepunkt soll am kommenden Mittwoch erreicht werden, wenn der Weltfußballverband Fifa die Weltmeisterschaft 2034 auf seinem Kongress offiziell nach Saudi-Arabien vergibt.
In westlichen Demokratien wird diese Offensive des Königreichs als »Sportswashing« bezeichnet, als Strategie, um von Menschenrechtsverletzungen abzulenken. Amira schüttelt den Kopf und holt ihr Handy hervor. Auf Instagram hat sie fast 7000 Follower. Sie zeigt dort ihre Bauchmuskeln und gibt sich modebewusst. Auf keinem Foto trägt Amira die Abaya, das schwarze Überkleid, das in Saudi-Arabien nicht mehr Pflicht ist, aber noch von vielen Frauen getragen wird.
Amira erhält viele Nachrichten von Mädchen und jungen Frauen. Sie gibt ihnen Tipps für Training und Ernährung. »Wenn ich nur eine von ihnen inspirieren kann, dann freut mich das sehr«, sagt sie und wirkt selbstbewusst. Über Politik möchte sie im Interview nicht sprechen, auch nicht über Kronprinz Mohammed bin Salman. Und doch haben Frauen wie Amira für den Regenten eine politische Bedeutung.
Rund 70 Prozent der Bevölkerung Saudi-Arabiens sind jünger als 30. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 17 Prozent. Jährlich drängen mindestens 250 000 Menschen auf den Arbeitsmarkt. Noch sind die Öleinnahmen hoch, aber langfristig werden sie sinken. »Die Monarchie kann nicht mehr allen Bürgern einen familienfreundlichen Job im Staatswesen anbieten«, sagt der Islamwissenschaftler Sebastian Sons. »Sie will den Arbeitsmarkt reformieren und ist dabei auf eine vielseitig ausgebildete Belegschaft angewiesen.« Nur so kann der Kronprinz den Wohlstand im Königreich sichern – und damit soziale Spannungen vermeiden.
Den Frauen kommt in dieser wirtschaftlichen Transformation eine wichtige Rolle zu. 1990 waren nur elf Prozent der Frauen in Saudi-Arabien erwerbstätig. Mittlerweile sollen es rund 40 Prozent sein. Die Regierung will diese Entwicklung beschleunigen und benötigt dafür sichtbare Vorbilder, auch im Sport.
Die höchste Fußballliga der Frauen in Saudi-Arabien, die Premier League, ist dafür ein gutes Beispiel. Zurzeit läuft ihre dritte Saison. In den vergangenen Jahren hatten die großen Multisport-Klubs des Landes vor allem in den Männerfußball investiert, in hohe Millionengehälter für Ikonen wie Cristiano Ronaldo und Neymar Jr. Aber inzwischen verpflichten sie auch langjährige Nationalspielerinnen aus dem Ausland: etwa Sara Björk Gunnarsdottir aus Island, Léa Le Garrec aus Frankreich und Ashleigh Plumptre aus England. Deren Gehälter dürften im internationalen Frauenfußball an der Spitze liegen.
Auch in den Strukturen des Fußballs schreitet der Wandel voran, berichtet Kyra Angerer. Die Sportsoziologin aus Berlin beobachtet den Frauensport in Saudi-Arabien seit langem und arbeitet nun für das Forschungsinstitut des dortigen Fußballverbandes in Riad. »Der Verband legt viel Wert darauf, Frauen auch in Coaching-Positionen zu bringen«, sagt Angerer. »Wir haben auch eine Vizepräsidentin und 20 Prozent der Angestellten sind Frauen.«
Angerer hat sich intensiv mit der Sportlandschaft von Riad beschäftigt. Glitzernde Bürotürme, Einkaufszentren und achtspurige Autobahnen prägen die Hauptstadt von Saudi-Arabien. Doch weit und breit gibt es keine Bürgersteige und Fahrradwege, Parks und Sportanlagen sind nur wenige vorhanden. Aber das Angebot wächst immerhin. Es entstehen Laufgruppen, Fitnesszentren, Yogastudios. Seit 2022 findet in Riad jährlich ein Marathon statt.
Auch im Fußball entsteht eine Basis für Breitensport. Angerer hat in Riad selbst in einigen Teams gespielt. Sie sagt, dass für saudische Frauen der Gesundheitsaspekt wichtig sei: »Viele Krankheiten, die aus Übergewicht und Inaktivität resultieren, sind hier sehr präsent.« Ein Fünftel der Bevölkerung in Saudi-Arabien lebt mit Diabetes, mehr als die Hälfte mit Übergewicht. Das sind internationale Spitzenwerte. Die Regierung möchte die Zahl der Menschen, die mindestens einmal pro Woche Sport treiben, bis 2030 von 13 auf 40 Prozent steigern. Das würde das Gesundheitssystem entlasten.
Die Monarchie etabliert Sport als Marketing für ihre Modernisierung. Sie verweist auch auf Diplomatinnen und Direktorinnen, auf Jobbörsen und Karrierenetzwerke für Frauen. 60 Prozent der Studierenden in Saudi-Arabien sollen inzwischen weiblich sein. Und im Fußball etabliert der Verband Jugendnationalteams für Frauen und vernetzt sich mit Schulen. Womöglich bewirbt sich Saudi-Arabien um die Austragung der Frauen-WM 2035.
»Diese Entwicklung soll im Inland und im Ausland Eindruck schinden«, sagt Lina al-Hathloul in einem Videointerview: »Aber wir sollten uns immer bewusst machen: Diese Öffnung und die wachsende Repression sind kein Widerspruch, sondern sie gehen Hand in Hand.«
Lina al-Hathloul wurde durch ihre Schwester politisiert. Die Frauenrechtsaktivistin Loujain al-Hathloul war mehrfach verhaftet und gefoltert worden. Einmal fuhr die Geheimpolizei mit schwarzen Wagen vor und stürmte ihr Haus in Riad. Loujain al-Hathloul und ihre Eltern dürfen Saudi-Arabien nicht verlassen. Lina al-Hathloul lebt in Brüssel und setzt die Arbeit ihrer Schwester fort. Sie nimmt an Kundgebungen teil, hält Vorträge und gibt Interviews. Ihr Thema: Menschenrechte.
Die Lage in Saudi-Arabien ist bedrückend. Allein in diesem Jahr hat das Regime offenbar mehr als 200 Menschen hinrichten lassen. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt Saudi-Arabien von 180 bewerteten Staaten auf Platz 166. Streiks, Demonstrationen und Parteien sind untersagt. Aktivistinnen und Bloggerinnen wurden zu Haftstrafen verurteilt oder leben unter Hausarrest.
Den Frauen kommt in der wirtschaftlichen Transformation des Landes eine wichtige Rolle zu.
Fakten wie diese kann die Menschenrechtlerin Lina al-Hathloul aus dem Gedächtnis wiedergeben. Und sie betont, dass Frauen gesetzlich noch immer schlechter gestellt seien als Männer. Für eine Heirat oder eine Auslandsreise benötigen sie häufig die Erlaubnis eines männlichen Vormunds. »Wenn Frauen Opfer von häuslicher Gewalt werden, haben sie in Saudi-Arabien keinen Zufluchtsort«, sagt al-Hathloul. »Und auch geflüchtete Frauen im Ausland können sich nicht rundum sicher fühlen. Mehrfach wurden Frauen gewaltsam wieder nach Saudi-Arabien gebracht.«
Trotz allem richtet sich die Fifa auf Saudi-Arabien aus: mit der Männer-WM 2034, mit einer Partnerschaft mit dem staatlichen Ölkonzern Saudi Aramco. Mehr als 100 internationale Fußballerinnen protestierten in einem offenen Brief und forderten ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Sponsoren. Doch unter den 211 Mitgliedsorganisationen der Fifa sind kritische Nationalverbände klar in der Minderheit.
Für die saudische Monarchie scheint die westliche Kritik ohnehin nebensächlich zu sein. Im Fokus stehen Bedrohungen für den wirtschaftlichen Wandel, etwa der Krieg zwischen Israel und der Hamas, oder eine potenziell wachsende Unzufriedenheit in der eigenen Bevölkerung. Es sind nämlich nicht mehr vorwiegend Religionsgelehrte und Händlerfamilien, die von staatlichen Anstrengungen profitieren, sondern junge Menschen, insbesondere Frauen.
»Früher wurde ich häufig von der Religionspolizei angehalten«, sagt die saudische Journalistin Maha Akeel aus Dschidda. »Die Polizei forderte mich auf, mein Gesicht zu bedecken. So etwas gibt es heute nicht mehr. Aber wir sind seit vielen Generationen auch eine Stammesgesellschaft. Das ändert sich nicht in kurzer Zeit.«
Und im Fußball? Liberale Eltern, die im Westen studiert haben, begleiten ihre Töchter zum Training und engagieren sich in Vereinen. Doch einige konservative Familien sträuben sich gegen den staatlich verordneten Wandel. Manche glauben, Sport schädige die Gebärfähigkeit. Etliche Fußballerinnen wollen in Teams daher nur ihre Vornamen preisgeben. Und sie lehnen Videoaufnahmen während der Spiele ab. Es gibt auch Berichte von jungen Frauen, die für ihren Sport zu Hause bestraft wurden.
Seit 2018 dürfen Frauen in Saudi-Arabien Auto fahren und Sportveranstaltungen von Männern besuchen. Und nun, sechs Jahre später, überträgt das Staatsfernsehen auch Spiele von Fußballerinnen. »Der jungen Generation stehen alle Türen offen«, sagt Maha Akeel. »Man kann das Land nicht geschlossen halten.« Und so entsteht für Frauen eine sportliche Teilhabe. Dass daraus auch eine politische Teilhabe erwächst, ist vorerst unwahrscheinlich.
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