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Hunderttausende sind in Syrien auf der Flucht
Humanitäre Organisationen in Syrien stehen vor enormen Herausforderungen
Auch nach dem überraschend schnellen Zerfall des Regimes des ehemaligen Staatspräsidenten Baschar Al-Assad kommt Syrien nicht zur Ruhe. Die Freude über das Ende der seit mehr als einem halben Jahrhundert währenden Diktatur ist im Land, wie auch in der syrischen Diaspora groß, doch genauso ungewiss ist die Zukunft des tief zerrütteten Staates. Mehr als die Hälfte der 22 Millionen Syrerinnen und Syrer sind in den vergangenen 13 Jahren vertrieben worden, die meisten davon innerhalb des Landes.
Welche Herausforderungen auf das Land nun zukommen, wenn zusätzlich zu den intern Vertriebenen auch die Zahl der Rückkehrer aus dem Ausland zunimmt, ist kaum abzusehen. Schon am Montag, keine zwei Tage nach dem Sturz von Assad standen an den Grenzübergängen der Türkei Hunderte Menschen Schlange, um nach Syrien zurückzukehren, in ein Land, das nach 13 Jahren Krieg noch in weiten Teilen zerstört ist. Die Welthungerhilfe mahnt jetzt schon, den Wiederaufbau Syriens nicht zu vergessen.
Rückkehr in ein zerstörtes Land
Viele Menschen, die innerhalb Syriens vertrieben wurden, wollen jetzt zurück in ihre Heimat, dort sei aber vieles weitgehend zerstört. Infrastruktur für Strom und Wasser, Krankenhäuser und Schulen müssten neu aufgebaut werden. Und zeitgleich kommt Syrien auch ohne Assad nicht zur Ruhe, die jüngsten Kämpfe haben UN-Angaben zufolge 370 000 Menschen vertrieben und gehen gerade im Norden des Landes weiter. Die von der türkischen Regierung gestützte Syrische Nationale Armee (SNA) versucht, die Stunde zu nutzen, um gegen die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) vorzugehen, die aufgrund der Beteiligung der kurdischen YPG und YPJ von der Türkei als Terrororganisation bezeichnet werden.
Die Kämpfe dort haben schon jetzt 120 000 Menschen vertrieben. Einer der jetzt neu vertriebenen ist Hassan Hassan. Der Kurde christlichen Glaubens stammt ursprünglich aus Aleppo. 2012 floh er von dort in das lange trotz Bürgerkrieg friedliche Afrîn, etwa 50 Kilometer nördlich von Aleppo. Bis 2018 war dieses vom Krieg weitgehend verschont geblieben. Dann marschierte die Türkei in die vorwiegend kurdisch besiedelte Region ein. Hunderttausende, darunter auch Hassan Hassan, flohen in die zwischen Afrîn und Aleppo gelegene Region Şehba. Sie war, anders als der Rest der Region Afrîn, nicht durch die Türkei und ihre Verbündeten der SNA besetzt worden.
Zum dritten Mal vertrieben
Als Englischlehrer begann er dort, mit der NGO SOS Afrîn zusammenzuarbeiten. Ziel der Kooperation zwischen lokalen Aktiven und einem in Deutschland ansässigen Verein war es, den etwa 200 000 Binnenflüchtlingen in Camps der Region ein wenig Hoffnung zurückzugeben. Ein Waisenhaus und eine Schneiderei sollten eine Perspektive geben in der kleinen Enklave, die von den anderen Teilen der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) abgeschnitten war. Blockaden für Lebensmittel und andere lebenswichtige Waren durch das syrische Regime waren in den vergangenen knapp sieben Jahren für die Vertriebenen genauso Alltag wie der wiederkehrende Beschuss durch die Türkei und die islamistischen Milizen der SNA.
Seit mehr als einer Woche ist Hassan Hassan nun ein weiteres Mal auf der Flucht. Im Zuge der Offensive der Miliz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) nutzte die SNA die Situation aus. Im Chaos der sich fluchtartig zurückziehenden syrischen und russischen Truppen fielen ihre Kämpfer in die Enklave ein, auch ein von der SDF kurzzeitig erkämpfter humanitärer Korridor zu den restlichen Gebieten der Selbstverwaltung konnte nicht gehalten werden. Ganze Gemeinschaften, die in Şehba eigentlich auf die Rückkehr in ihre Heimat gehofft hatten, wurden ein weiteres Mal vertrieben. Doch viele konnten auch nicht mehr flüchten. Nach Angaben der SDF sollen islamistische Milizen in der Region Tausende weiterhin an der Flucht hindern.
»Da nun nichts mehr aus Damaskus kommt, hat auch die UN kaum noch Wege für humanitäre Hilfslieferungen in den Norden.«
Mitarbeiterin des kurdischen Roten Halbmonds
Diejenigen, die fliehen können, kommen derzeit vor allem in der Stadt Tabqa am Eurphrat-Stausee an. In wenigen Tagen haben lokale Hilfsorganisationen dort eine improvisierte Zeltstadt aus dem Boden gestampft. »Da nun auch nichts mehr aus Damaskus kommt, hat auch die UN kaum noch Wege für humanitäre Hilfslieferungen in den Norden«, so eine Mitarbeiterin des kurdischen Roten Halbmonds gegenüber »nd«. Der Krieg hat schlicht alle Versorgungsrouten lahmgelegt, die auch in dem in den letzten Jahren geteilten Land etabliert wurden. Aktuell gehe es vor allem darum, die Menschen in Häusern und nicht mehr in Zelten unterzubringen, die Temperaturen um den Gefrierpunkt stellen gerade für Kranke und Alte, aber auch für Neugeborene ein großes Risiko dar.
Kämpfe und Vertreibungen könnten weitergehen
Auch in anderen Teilen Syriens steigen die Zahlen der Vertriebenen rasant, aus Homs wie Damaskus waren Kolonnen an Autos zu sehen, sobald sich die islamistischen Rebellen den Städten näherten. Bis zu 1,5 Millionen Menschen könnten nach UN-Schätzungen in Syrien ihre Heimat verlieren. Darauf vorbereitet sind die Hilfswerke der UN kaum. Schon vor den jetzt ausgebrochenen Kämpfen konnte nur ein Drittel der benötigten vier Milliarden Dollar zur Versorgung der Vertriebenen aufgebracht werden. Erst in dieser Woche hatten die UN verkündet, Lebensmittelrationen aufgrund der schlechten Finanzierungslage um bis zu 80 Prozent zu kürzen.
Sollte es zu weiteren Gefechten zwischen den verschiedenen Parteien kommen, könnte die humanitäre Katastrophe im Land bislang ungeahnte Ausmaße annehmen. Das bestätigt auch der kurdische Rote Halbmond. Sollte die SNA wie angekündigt weitere Teile der Selbstverwaltung angreifen, sei mit noch größeren Fluchtbewegungen zu rechnen.
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