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Flexibler Islamismus in Syrien
Der neue starke Mann Syriens und seine Miliz HTS: Über ihre politische Wandlung und ihre Herrschaft in der Region Idlib
Ahmad Al-Scharaa oder doch Abu Mohammad Al-Dscholani? Am Namen entscheidet sich, mit wem man es zu tun hat. Syriens neuer starker Mann, nach dem Abgang des langjährigen Präsidenten Baschar Al-Assad, wählt unzweideutige Worte, verspricht ein plurales Syrien, in dem alle Religionen, alle Volksgruppen ihren Platz finden. Da spricht Ahmad Al-Scharaa, der weltgewandte und diplomatisch auftretende Politiker, der für Syrien nur das Beste will.
Sein Alter Ego Al-Dscholani – so der Kampfname des Anführers der HTS-Miliz – spricht eine andere Sprache, die des Ideologen, der den Islam zur Grundlage staatlichen Handelns machen will, in der Region Idlib, im äußersten Nordwesten Syriens, ein repressives Regime aufgebaut hat, das auch Hinrichtungen angeblicher Regierungsanhänger oder kurdischer Kämpfer kannte, wo humanitäre Helfer grundlos eingesperrt wurden, Proteste niedergeschlagen wurden.
Menschenrechtsverletzungen in Idlib
Aus Idlib im Nordwesten, wo die HTS über rund vier Millionen zumeist vertriebene Syrer herrschte, gibt es unterschiedliche Schilderungen. Menschenrechtler haben Folter und Tötungen politischer Gegner dokumentiert. Ein Oppositioneller sagte dem Magazin »Foreign Policy« 2017, Al-Dscholani und seine Männer seien »vollwertige Al-Qaida-Mitglieder« und aus »demselben Holz geschnitzt wie Assad«, der auf grausamste Weise gegen das eigene Volk vorging. So sollen im November 2020 44 Frauen in HTS-Gefängnissen eingesessen haben, berichtete damals eine Menschenrechtsorganisation.
Hunderte protestierten dieses Jahr in Idlib gegen Al-Dscholani, beschrieben ihn als Tyrann in einem autoritären System. Und noch immer hängt über ihm ein von den USA ausgelobtes Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen US-Dollar. Viele zweifeln daher, dass es unter ihm etwa freie und faire Wahlen geben könnte.
Entstanden nach dem Irakkrieg von 2003
»Die Anfänge von HTS gehen auf den Irakkrieg von 2003 zurück«, sagt Regine Schwab dem »nd«. Sie arbeitet bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und hat speziell zu den syrischen islamistischen Gruppen geforscht und veröffentlicht. »Ahmad Al-Scharaa, damals noch unter seinem Kampfnamen Abu Mohammad Al-Dscholani, ist von Syrien in den Irak gegangen, um dort gegen die US-Amerikaner zu kämpfen. Er saß auch in einem amerikanischen Gefängnis im Irak und spielte nach seiner Entlassung eine wichtige Rolle im damals noch Islamischen Staat in Irak (Vorgängerorganisation von ISIS).«
Nach Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs sei Al-Dscholani im Irak gewesen und dann von Al-Baghdadi, also dem Anführer des damals Islamischen Staats im Irak, dem sogenannten Kalifen, nach Syrien entsendet worden. Das Ziel: in Syrischen einen IS-Ableger aufzubauen. »Er ist mit ein paar Männern über die Grenze, dann haben sich auch syrische Kämpfer angeschlossen. Das war anfangs eine kleine Elitetruppe, bei der bald klar wurde, dass sie irgendwas mit dem internationalen Dschihadismus zu tun hat«, erklärt Regine Schwab. Daher waren die anderen Gruppen zunächst zurückhaltend, »aber sie erwiesen sich auf dem Schlachtfeld als sehr effektiv, sodass es sehr bald zu Kooperationen mit der Gruppe kam«.
Verbindung zum Islamischen Staat (IS)
Die Verbindung der Gruppe zum IS wurde erst 2013 deutlich, als Al-Baghdadi den IS im Irak und die Gruppe in Syrien zusammenfasste. Dann erfolgte eine überraschende Wendung. Al-Dscholani und seine engsten Berater erklärten: Wir gehören nicht mehr zum Islamischen Staat, sondern erklären unsere Zugehörigkeit zu Al-Qaida, erläutert Schwab.
Schwer zu sagen, ob die Abgrenzung ehrlich war oder ein geschicktes Täuschungsmanöver. »Manche sagen, dass das nur ein taktischer Schachzug war und die Abgrenzung vom IS nur dazu diente die relative Beliebtheit und den Einfluss unter der syrischen Bevölkerung zu wahren.« Die gleiche Frage stellt sich dann auch 2016, als Al-Dscholani auch Abstand nimmt zu Al-Qaida. Er erklärt sich für unabhängig, will in und für Syrien kämpfen. Regine Schwab: »Dafür war die Verbindung zum internationalem Dschihadismus von Nachteil.« Anfang 2017 erfolgte dann die Umbennenung in den heute noch verwendeten Namen: Haiat Tahrir Al-Scham (Komitee zur Befreiung Syriens). »Diese Trennung wurde auch von allen Rebellengruppen in Syrien begrüßt.«
Regierung der Rettung
Die Gruppe wuchs und im Laufe der Zeit schlossen sich auch viele aus den säkularen Kräften der HTS an. 2016 soll sie 10 000 Kämpfer gehabt haben, 2018 schon um die 20 000. Die Rebellenallianz, die Assad zu Fall gebracht hat, soll nach Medienberichten rund 60 000 Kämpfer in ihren Reihen haben – «und ich vermute, HTS ist darunter die größte«, sagte Schwab.
Die islamistische HTS-Miliz (Haiat Tahrir Al-Scham) ist neuer Machthaber in Damaskus. Sie steht unter dem Kommando von Ahmad Al-Scharaa (Kampfname: Abu Mohammad Al-Dscholani). Das »Komitee zur Befreiung der Levante«, wie die Miliz auf Deutsch heißt, wurde 2017 als Zusammenschluss verschiedener islamistischer Gruppen gegründet und wird maßgeblich von der ehemaligen Al-Nusra-Front geprägt, einem syrischen Ableger des Al-Qaida-Netzwerks. Die HTS wurde im Bürgerkrieg massiv von der Türkei unterstützt und kontrolliert seit vielen Jahren die an der türkischen Grenze gelegene Provinz Idlib, wo sie ein islamistisches Regime errichtete.
Bei der Syrischen Nationalen Armee (SNA), die gerade die kurdische Stadt Manbidsch mit türkischer Luftunterstützung erobert hat, handelt es sich ebenfalls um einen islamistischen Verbund. Anders als die HTS kann die SNA allerdings direkt als türkischer Proxy, also als eine Art Vorfeldorganisation, gelten. Gemeinsam mit der türkischen Armee soll die SNA eine türkisch kontrollierte Pufferzone in Nordsyrien errichten.
Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF, Syrian Democratic Forces) sind die Miliz der »Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens«. Die Selbstverwaltungsgebiete entstanden zunächst im kurdischen Teil Syriens (auf Kurdisch: Rojava). Durch die türkische Besatzung eines wesentlichen Teils von Rojava einerseits und den Kampf der SDF gegen den Islamischen Staat andererseits gehören zur Selbstverwaltung mittlerweile auch große arabische und christliche Gebiete. Die SDF bestehen in diesem Sinne längst nicht mehr nur aus der kurdischen YPG und den Frauenverbänden der YPJ, sondern begreifen sich – ebenso wie die demokratische Selbstverwaltung – als plurinationales Projekt.
Die größten politischen Streitpunkte zwischen den islamistischen Milizen HTS und SNA auf der einen Seite und den Syrischen Demokratischen Kräften auf der anderen Seite sind das Modell der demokratischen Selbstverwaltung, die laizistischen Prinzipien sowie das feministische Selbstverständnis der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens. raz
In Idlib setzt die HTS dann Ende 2017 eine sogenannte Regierung der Rettung ein, die die Wirtschaft der Rebellenhochburg kontrolliert. Es gebe »ausgeklügelte Maßnahmen, die Lebensmittelpreise zu subventionieren und den Banken- und Energiesektor in den kontrollierten Gebieten zu stabilisieren«, schreibt die New Yorker Denkfabrik Soufan Center. Der Aufbau solcher Strukturen deute »auf ihr Ziel hin, zu regieren und die Kontrolle zu behalten«.
Technokratische Verwaltung mit viel Pragmatimus
HTS stelle der Bevölkerung in Idlib »grundlegende Dienstleistungen zur Verfügung« und stimme sich mit US-Hilfsorganisationen ab, um humanitäre Hilfe für die Millionen Bedürftigen zu leisten, erläutert Jérôme Drevon, Dschihadismus-Experte der International Crisis Goup (ICG).
»Ich würde sagen, ab 2019 oder 2020 haben wir auf alle Fälle sehr viel Pragmatismus gesehen und eine Art technokratische Regierung und Verwaltung. Die ideologischen Elemente wurden immer mehr zurückgefahren«, betont Schwab. Das bedeute aber keineswegs, dass es keine Menschenrechtsverletzungen mehr gab. Die Justiz sei als total willkürlich beschrieben worden, die Pressefreiheit war nicht garantiert. Wenn zum Beispiel lokale Journalisten kritische Berichte über die Verwaltung schrieben, seien sie im Gefängnis gelandet.
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Ähnlichkeiten mit der Hamas
»Und natürlich gab es weiter Einschränkungen für Frauen«, erklärt Schwab und urteilt: »Das war eine autoritäre Herrschaft, aber sicherlich weniger autoritär und brutal als der IS oder Assad. Man kann nicht von Presse- oder Meinungsfreiheit sprechen, aber nur ein Teil der Einschränkungen lässt sich durch eine islamistische Ideologie erklären, der andere Teil dadurch, dass hier eine bewaffnete Gruppe versucht, ihre Kontrolle zu sichern. Über die Jahre hat sich das dann auch professionalisiert mit Polizei und Sicherheitsdiensten.«
Guido Steinberg, Islamismus-Experte am Regierungs-Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), vergleicht Al-Dscholanis Organisation Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) und ihre Ordnungsvorstellungen mit der Hamas: autoritäre Herrschaft in Verbindung mit sozialem Konservatismus. »Dieser drückt sich zum Beispiel darin aus, dass die meisten Frauen ein Kopftuch tragen, aber nicht vollständig verschleiert sind. Hinzu kommt eine zumindest moderate Durchsetzung islamischer Rechtsvorschriften«, sagte Steinberg der Zeitschrift »Cicero«.
»Die HTS hat gezeigt, dass sie unglaublich opportunistisch ist.«
Tammy Lynn Palacios
New Lines Institute
Bei beiden Gruppen handele es sich letztlich um sunnitische Islamisten. Die wollten in der Regel »einen islamischen Staat auf der Grundlage einer eigenen Interpretation des islamischen Rechts begründen«. Ähnlichkeiten gebe es auch bei den Erfahrungen mit Regierungsverantwortung. So wie die HTS bereits in Idlib geherrscht hat, regierte die Hamas vor 2023 im Gazastreifen.
Al-Dscholani hat sich in Idlib Christen und Drusen gegenüber offen gezeigt und nun auch den Schutz etwa der kurdischen Gemeinde angemahnt. In Idlib ermöglichte er Frauen eine aktivere Teilhabe an der Gesellschaft, auch wenn keine Frau in der örtlichen Verwaltung arbeitete. Er hat Regeln auf Grundlagen der Scharia gefordert, diese sollten aber »nicht den Standards des IS oder gar Saudi-Arabiens« entsprechen. HTS hat keine Schullehrpläne durchgesetzt, Frauen müssen sich nicht komplett verschleiern, Raucher dürfen rauchen.
Neuer Übergangspremier
Der von Al-Dschlani eingesetzte neue Regierungschef Mohammed Al-Baschir, zuvor Regierungschef in Idlib, beteuert bereits, die Rechte aller Syrer garantieren zu wollen. »Das falsche Verhalten einiger islamistischer Gruppen hat dazu geführt, dass viele Menschen, vor allem im Westen, Muslime mit Terrorismus und den Islam mit Extremismus verbinden«, sagte er in einem Interview. Dies sei jedoch eine falsche Darstellung. Dass die Verfassung außer Kraft gesetzt wurde, mutmaßlich auch, um den Islam als Staatsreligion im Verfassungstext zu verankern, stimmt dagegen nicht hoffnungsvoll.
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Man müsse sehen, ob die »Initiativen der vergangenen Tage mehr sind als eine PR-Operation«, schreibt Syrien-Experte Aaron Zelin vom Washington Institute. Eine »Regierung auf Grundlage von Institutionen« und ein »vom Volk gewählter Rat«, wie Al-Dscholani es kürzlich im CNN-Interview für Syrien voraussagte, kann letztlich viele verschiedene Regierungsformen bedeuten.
Mehr als eine PR-Operation?
Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) versuchte in den vergangenen Jahren, sich ein neues, gemäßigtes Image zu geben. Seit 2016 habe sie keine Verbindungen mehr zu Al-Qaida, behauptet die Gruppe. In ihren Hochburgen nahm sie Verantwortliche von Al-Qaida und der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) fest, wie die International Crisis Group (ICG) berichtet.
Der französische Journalist Wassim Nasr traf im vergangenen Jahr den HTS-Anführer Al-Dscholani. »Er und seine Gruppe sind nicht mehr dem internationalen Dschihad verpflichtet, das war glasklar«, sagte Nasr danach der Zeitschrift »CTC Sentinel« der US-Militärakademie West Point. Sie seien der Auffassung, dass der Dschihadismus den Menschen »nur Zerstörung und Misserfolg« gebracht habe.
Experten zweifeln Bruch mit der Vergangenheit an
»Mädchen gehen in die Schule, Frauen fahren Auto, man sieht Leute auf der Straße rauchen«, berichtete der Journalist von seinem Besuch in der seit 2019 zu weiten Teilen von der HTS beherrschten Provinz Idlib. »Natürlich sind sie weit davon entfernt, die demokratischen Werte oder die einer liberalen Gesellschaft zu übernehmen, aber es ist eine Wende.«
Andere Experten bezweifeln, dass die HTS vollständig mit der Vergangenheit gebrochen hat. Die Gruppe habe »gezeigt, dass sie in ihren Loyalitäten und Allianzen unglaublich opportunistisch ist«, sagt Tammy Lynn Palacios von der Denkfabrik New Lines Institute in Washington. Sie betrachtet HTS weiterhin als »dschihadistische Organisation«. Auch die USA und die EU stufen Haiat Tahrir Al-Scham nach wie vor als terroristisch ein.
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