François Bayrou steht vor einem »Himalaya von Problemen«

Frankreichs neuer Premierminister kann nicht mehr Unterstützung erwarten als sein Vorgänger

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 5 Min.
François Bayrou ist neuer Regierungschef in Frankreich ohne Mehrheit. Linke und Rechtsextreme können ihn jederzeit stürzen.
François Bayrou ist neuer Regierungschef in Frankreich ohne Mehrheit. Linke und Rechtsextreme können ihn jederzeit stürzen.

Als Präsident Emmanuel Macron am Donnerstag von einem Kurzbesuch in Polen zurückkehrte, kündigte er für den nächsten Morgen die Entscheidung über den neuen Premierminister an. Doch am Freitagvormittag wurde dieser Termin immer wieder verschoben, und erst wenige Minuten vor den 13-Uhr-Nachrichten kam die offizielle Meldung, dass François Bayrou zum neuen Regierungschef ernannte worden sei.

Was sich da hinter den Kulissen abgespielt hat, ist beispiellos. Am Morgen hatte Macron dem in den Elysée-Palast bestellten Bayrou erklärt, dass er sich nicht für ihn, sondern für den bisherigen Verteidigungsminister Sébastien Lecornu entschieden habe. Es folgte ein mehr als zweistündiges Gespräch, in dem sich Bayrou nicht scheute, für diesen Fall die Unterstützung der von ihm geführten Zentrumspartei Modem für den Präsidenten aufzukündigen.

Bayrou wird durch Erpressung Premierminister

Tatsächlich wäre Macron ohne Bayrou und die Modem-Partei 2017 bestimmt nicht Präsident geworden. Und so rief er ihn Stunden später noch einmal in den Elysée-Palast, um ihm zu erklären, er habe seine Entscheidung geändert. Beobachter sind sich einig, dass es in der Geschichte der 1958 gegründeten Fünften Republik das erste Mal ist, dass es ein Politiker mit einer Erpressung schafft, die Ernennung zum Premierminister zu erzwingen.

Bei der Amtsübergabe am Abend im Hof des Matignon-Palais’ räumte Bayrou ein, dass er sich einem »Himalaya von Problemen« gegenüber sehe. Mit dieser Einschätzung hat er sicher recht. Bei seinem Auftrag, Frankreich aus der Regierungskrise zu führen, dürfte er nicht mehr Unterstützung zu erwarten haben als sein Amtsvorgänger Michel Barnier.

Rechtsextreme versichern dem Premier eine »Schonfrist«

Beide kommen aus kleinen Parteien – Barniers Fraktion der Republikaner zählt nur 58 Parlamentarier und bei der Modem-Fraktion sind es 51 – und ihr Auftrag lautet, durch Verhandlungen eine regierungsfähige Koalition zusammenzuzimmern. Dabei stand und steht ihnen eine linke und eine rechtsextreme Opposition gegenüber, die den Regierungschef jederzeit zu Fall bringen können, wenn sie beide Misstrauensanträge einbringen und diese gegenseitig unterstützen.

Das rechtsextreme Rassemblement National (RN) versichert wie im September beim Amtsantritt von Barnier, dass man der Regierung eine gewisse »Schonfrist« einräume und sie nach einiger Zeit daran messen werde, was sie bei der Verschärfung der Ausländerpolitik und bei der Verbesserung der Kaufkraft für die Masse der Franzosen getan hat – beides Themen, bei denen RN populistisch Punkte sammeln will für die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2027.

Linker Flügel möchte Regierung schnellstmöglich stürzen

La France insoumise (LFI), der äußerste Flügel der linken Volksfront, erwartet von der neuen Regierung gar nichts, sondern würde auch sie lieber heute als morgen stürzen. LFI erinnert immer wieder daran, dass eigentlich die Linke mit der Regierungsbildung hätte beauftragt werden müssen, weil sie bei den Parlamentswahlen im Juli die meisten Wählerstimmen auf sich vereinigt hat.

Leicht verändert hat sich im Vergleich zu September die Haltung der anderen Teilnehmer der Volksfront – der Sozialisten, der Grünen und der Kommunisten. Zwar haben sie nicht dem Werben von Macron und dem Regierungslager nachgegeben, die Volksfront zu sprengen und mit den rechten und Zentrumsparteien von Fall zu Fall ein Zweckbündnis einzugehen, um für einzelne Gesetze eine Parlamentsmehrheit zu erreichen.

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Experten haben ausgerechnet, dass es dafür oft schon reichen würde, wenn 45 linke Abgeordnete »pragmatisch« wählen oder sich der Stimme enthalten würden. Immerhin hat der PS-Parteivorsitzende Olivier Faure wiederholt öffentlich erklärt, seine Partei sowie die Grünen und die Kommunisten seien bereit, auf die Drohung mit Misstrauensanträgen zu verzichten, wenn man auf Seiten der Regierung bereit sei, auf den undemokratischen Verfassungsartikel 49.3 zu verzichten, mit dessen Hilfe man Gesetze ohne Debatte und Abstimmung durchs Parlament drücken kann. Noch sind die rechten und die Zentrumsparteien nicht bereit, diese Zugeständnisse zu würdigen und darauf einzugehen, aber immer öfter denkt man schon laut darüber nach.

Bayrou will gerechte Verteilung von Reichtum

Aktuelle Probleme, an die man pragmatisch herangehen sollte, gibt es genug. Zwar hat der Ministerrat in der vergangenen Woche ein »Sondergesetz« verabschiedet und dem Parlament zugeleitet, mit dem für die ersten Monate des nächsten Jahres provisorisch der Haushalt von 2024 weiterläuft, aber das ändert nichts daran, dass über kurz oder lang ein richtiger Haushalt ausgehandelt werden muss.

Daran, dass das Problem der hohen Staatsschulden angepackt werden muss, hat erst am Donnerstag wieder die Agentur Moody’s erinnert, indem sie die Bewertung Frankreichs um eine Note nach unten korrigierte. Zu den Themen, die Bayrou selbst als vordringlich ansieht, zählt die ungerechte Verteilung des Reichtums. Hier will er eine »Versöhnung« herbeiführen, vergleichbar der zwischen Katholiken und Protestanten im 16. Jahrhundert. Sie war das Werk von König Heinrich IV., den Bayrou hoch schätzt und über den er eine auch von Historikern anerkannte Biografie geschrieben hat.

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