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Lost in Translation

Vor 30 Jahren verbrachte unser Autor Weihnachten in Jerusalem

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 15 Min.
Leuchtet da nicht ein Stern? In der Altstadt von Bethlehem, 1997
Leuchtet da nicht ein Stern? In der Altstadt von Bethlehem, 1997

Hey! Hello-ho!» Eine dünne Kinderstimme und ein Klopfen am Fenster, das von außen vergittert war. «Good morning! Hello-ho!»

Wie viel Uhr wird es gewesen sein? Vor neun bestimmt. Sean und Judith, meine Mitbewohner, waren längst zur Uni gefahren. Er war Kanadier, sie Australierin; beide studierten Religion und Philosophie an der Hebrew University. Viel mehr wusste ich nicht von den beiden, mein Englisch war zu schlecht. Unsere Parterrewohnung lag im Südwesten der Altstadt, im Armenischen Viertel, wo die Einheimischen 1994 im Winter mit Radiatoren heizten, deren Stromverbrauch so horrend war, dass man die Geldscheine auch direkt hätte verbrennen können. Mein Zimmer war eine Kammer, etwas größer als ein begehbarer Kleiderschrank, mit meinem Körper als einziger Wärmequelle. Die Butze war also entweder stickig oder eisig, da die Sauerstoffzufuhr nur durch regelmäßiges Öffnen der vergitterten Fensterluke gewährleistet war. Weihnachten in Jerusalem …

Ich sehe mich noch Tage vorher am Ben Gurion Airport umherirren, mit all dem Gepäck. H. wollte mich abholen, stand jetzt aber in der Empfangshalle völlig abseits, als wollte sie nicht behelligt werden. Was sollte das denn? Wir hatten uns Briefe geschrieben voller Poesie – über Gott, die Welt und uns mittendrin. Ihr Erasmus-Semester schien damals ewig zu dauern. Und weil uns beiden in der Adventszeit die Einsamkeit drohte, war der Gedanke aufgekommen, ich möge doch die Feiertage im Heiligen Land verbringen, bei ihr. Oder war das nur mein Gedanke? Offenbar hatte ich in ihren Briefen Sachen gelesen, die dort nicht standen, auch nicht zwischen den Zeilen.

Der Typ, der jetzt neben ihr stand und sie um einen Kopf überragte, war übrigens Sean. In seiner WG würde ich die nächsten zwei Wochen Unterkunft finden. Alles Weitere später, sagte H., die mir die Bleibe vermittelt hatte. – Das «Weitere» aber blieb aus. Was sollte auch «weiter» sein? H. machte nicht einmal mit mir Schluss. Von ihrer Seite war da nichts gewesen, das hätte beendet werden müssen. Wir hatten eine Brieffreundschaft! (Im Leben sollte mir dergleichen noch oft passieren, dass aus Fantasie Erinnerung würde.)

Jedenfalls war Sean ein gutmütiger Brummbär. Am ersten Tag zeigte er mir, durch welchen Trick und Ruck ich mit dem Schlüssel im Schloss seine Tür auf- und wieder zubekam. «You got it?» – Aber ja doch. Was sollte daran nicht zu verstehen sein. Nach der Tür-Einweisung gingen wir noch in seine Lieblingskneipe, vorbei an irgendwelchen Kirchen und Minaretten. Beim Bier erzählte er mir dann, dass meine Brieffreundin an der Uni wohl einen richtigen Freund hatte, der irgendwas mit Management studierte. Von meinem letzten Brief sei sie überrascht gewesen; ob ich denn kein Telefon habe? Gute Frage. Damals habe ich wohl keines gebraucht. Handys und Internet gab es auch noch nicht.

Auf dem Heimweg liefen wir über den Shuk, den berühmten Altstadtmarkt, und ich war völlig überfordert: dieses Durcheinander aus Arabisch, Hebräisch, Russisch, broken English; Deutsch sprach hier niemand. Und dann all die Gerüche nach Fisch, Fleisch und Gewürzen. Dauernd griffen Hände nach mir; wollten Leute, dass ich stehenbleibe, die Ware prüfe oder probiere.

«Ah, German!», riefen sie.

Fremde Männer klopften mir auf die Schulter, als wären wir alte Freunde, Komplizen. «Deutsche gut!» Wohingegen Sean für diese Leute einfach nur ein Fremder war. Ihm klopfte niemand auf die Schulter, niemand sagte: «Hey, Kanada super!» Mein Gastgeber war darüber ein wenig irritiert, aber es war ihm auch nicht so wichtig. Er wollte mir nur noch zeigen, an welchem Haus, an welchem Turm ich mich orientieren müsse, um wieder heimzufinden.

Ebendort sahen wir einander meist in der Küche. Small Talk, mehr war nicht drin, mein Englisch war einfach zu miserabel. Judith, unsere Mitbewohnerin, bekam oft Besuch von Aaron, ihrem jüdischen Freund. Der Weg zu ihr war für ihn, sagen wir es mal euphemistisch, nicht frei von ethnisch-kulturellen Barrieren. Auch in Berlin gibt es Stadtbezirke, wo du besser nicht die Schläfenlocken raushängen lässt. Wäre doch schön, wenn in Neukölln alle einander aushalten würden. Aber, wie mir ein Theologe mal gesagt hat: Offenbar muss Gott die Idioten besonders lieb haben. Warum sonst hat er so viele von ihnen erschaffen? Und einige dieser Idioten lebten in der Jerusalemer Altstadt. Das Armenische Viertel lag zwar gleich am Jaffa-Tor, war jedoch ein palästinensisches Quartier. Wobei Aaron als sephardischer Jude (dessen Vorfahren aus Nordafrika stammten) in der Menge zum Glück unterging – um dann aber in Judiths Wohnung auf einen Deutschen zu treffen. Kurzum: Aaron und ich, wir sind keine Freunde geworden. Er grüßte nicht mal zurück. Judith meinte, ich möge es nicht persönlich nehmen. «Wenn du wenigstens aus Österreich stammen würdest», murmelte sie bedauernd auf Englisch.

Christmette im »Heiligen Land«! Immer wieder aufstehen, hinsetzen und wieder aufstehen.
Christmette im »Heiligen Land«! Immer wieder aufstehen, hinsetzen und wieder aufstehen.

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass mich ein Mensch abgrundtief scheiße fand, weil ich Deutscher war. Andere wiederum, und ich wiederhole mich da nur ungern, liebten mich dafür. Sobald ich nebenan den Souvenirshop betrat oder irgendeinen arabischen Kiosk und ein paar Worte von meinem bad English hören ließ, kam umgehend der Ausruf: «Ah, Deutscher!» und: «Deutsch gut!» Nur war das keine Freundlichkeit, das war Hass – allerdings nicht mir gegenüber. Einmal hielt sich jemand dabei die Wampe, sagte: «And now I go by bus.» Den vermeintlichen Witz habe ich erst eine Minute später verstanden. Mit den Händen hatte er einen Sprengstoffgürtel simuliert. Und auch diesen einen Menschen hatte Gott besonders lieb.

Mehrmals am Tag überquerte ich den Markt, dieses Labyrinth aus engen Gassen nahe dem Jaffa-Tor. Ich lief vorbei an Gewürzen, Schmuck und Fleisch. Zwischendrin gab es jede Menge Trödel, Teppiche, geschnitzte Marien- und Jesusfiguren. Letztere in allen erdenklichen Varianten: mit dem Kreuz auf dem Weg nach Golgatha, am Kreuz hängend und natürlich als Auferstandener. Und offenbar hatte sich unter den hiesigen Geschäftsleuten meine Herkunft herumgesprochen.

«Oh, you are a German! Please help me!» Tags darauf gehe ich den gleichen Weg und höre die gleiche Stimme: «Oh, you are a German! You have to help me!» Und am Nachmittag dann: «Oh, Mister German, please help!» Und weil das irgendwann so nicht mehr weiterging, erbarmte ich mich seiner: «Okay, how can I help you?» Worauf mich der Händler, ein wohlgenährter Mann mittleren Alters, nach hinten zog, in die Sitzecke hinter der Trennwand. «Look!» Er drückte mir eine Schiefertafel und ein Stück Kreide in die Hand. Ich möge ihm das deutsche Wort für «Total Sale» aufschreiben. «That’s all?» – Ja, was denn sonst?, sagte sein Gesicht, seine ganze Erscheinung. Diesen einen Gefallen nur!

Was für ein liebenswürdiger Mensch, dachte ich. Da macht der ein Spektakel wegen eines Wortes! Während ich also mit Kreide «AUSVERKAUF» schrieb, servierte der Händler mir ein Glas Tee und war sichtlich froh, dass ihm endlich wer seine Tafel beschrieb. Deutsche Touristen wüssten jetzt Bescheid. Und ich war auch froh: einen Freund gefunden zu haben. My new friend!

Noch bevor ich ihm aber von mir erzählen konnte, schob er mir ein Schächtelchen zu mit zwei Ohrringen. Modeschmuck, nichts Besonderes. «This is for your girlfriend, a present.» Wie ich schon sagte, ein Freund! Und das nur, weil ich seine Schiefertafel beschrieben hatte! Ein Geschenk für meine Freundin – die ich nicht mehr oder nie gehabt hatte. Aber egal. Natürlich nahm ich das Präsent an mich. Ich wollte den Mann ja nicht beleidigen. Wenn er doch sowieso Ausverkauf machte, wären die Ohrringe eh nicht so teuer gewesen. Wir redeten noch über dies und jenes, über das Wetter, über Weihnachten in Jerusalem. Als er auf einmal zweite Schmuckschachtel auf den Tisch legte. Die geschenkten Ohrringe und diese wunderschöne Kette hier, meinte er, «is just like a family». Und eine Familie darf man nicht auseinanderreißen! Die Familie gehört zusammen! Kurzum: Ich habe dann tatsächlich umgerechnet 30 Mark bezahlt für eine bekloppte Kette. Geld, das ich gerade so besaß, für eine Frau, die mich verlassen hatte, nachdem wir nie eine Beziehung hatten! Übrigens: Der kleine Sohn des Händlers war es dann, der mich Tage später weckte: «Good morning! Hello-ho!» Doch dazu später.

In der Wohnung angekommen, lachte Judith mich aus. Der Mann sei dafür bekannt, Touristen mit einer Schiefertafel abzuzocken. Also habe ich ihr dann den Schmuck geschenkt, war ja Weihnachten. Judith hat sich auch gefreut. Nicht gefreut hat sich wohl Aaron. Aber Judith klärte ihn auf.

An Heiligabend gingen wir in die Stephanskirche, die außerhalb der Altstadt hinter dem Damaskustor steht und seit über hundert Jahren von Dominikanern betrieben wird. Und obwohl ich religiös absolut unmusikalisch bin, weiß ich noch, das fühlte sich tatsächlich an wie Weihnachten: Christmette in Jerusalem! Immer wieder aufstehen, hinsetzen und wieder aufstehen. Die Gemeinde sang Lieder auf Latein, Arabisch, Englisch. In einem Land, das schon 1994 von Gewalt so beherrscht war wie Israel, war Weihnachten etwas Besonderes. Natürlich nicht für alle. Wo Aaron steckte, weiß ich nicht mehr. Chanukka war seit Wochen vorbei. Die Geburt des Messias, wird einfach nicht sein Ding gewesen sein.

Nach der Christmette schlossen wir uns den Benediktiner-Mönchen der Dormitio-Abtei an. Eine Gruppe von zehn, zwölf Priestern, die sich jedes Jahr in der Heiligen Nacht auf den Weg machten, vom Zionsberg zu Fuß nach Bethlehem. Und wir – Judith, Sean und ich – liefen mit ihnen, drei Stunden lang durch stockfinstere Nacht. Immer wieder hielten die Mönche an, um Gebete zu sprechen. Weil wir aber am Abend weiß Gott schon genug gebetet hatten, meinte Sean, dass wir auch vorausgehen könnten. Was wir dann auch taten, um dann plötzlich allein bei nachtschwarzer Kälte herumzustehen – auf einem Acker im besetzten Westjordanland. Wie gesagt, es gab keine Handys.

Die Sterne über uns sahen alle gleich aus. Keine Menschenseele außer uns weit und breit. Judith heulte. Wir seien Idioten, weil wir uns diesen bekloppten Priestern («crazy priests») angeschlossen hätten. Außerdem könne da unmöglich der Originalweg von Josef und Maria sein. Für eine Hochschwangere, selbst wenn sie auf einem Esel ritt, wäre das ein Gewaltmarsch gewesen, mit schlimmen Folgen für das Ungeborene. «Where are we?», schrie Judith. Und auch ich spürte eine gewisse Unruhe, derweil sich Sean in Sterndeutung übte und am Himmel den Kleinen Bären suchte. Ganz links war der Polarstern. In der entgegengesetzten Richtung, im Süden also, müsste Bethlehem liegen, «Fucking Bethlehem», wie Judith ergänzte.

Ruhe, Frieden und Besinnlichkeit waren in dieser Heiligen Nacht dahin, als uns auf einmal Scheinwerfer blendeten – ein Streifenwagen der IDF, der israelischen Armee, die hier offenbar jedes Jahr an Weihnachten die Spinner aufsammelte. Die Soldaten wollten gar nicht wissen, wer wir waren oder was wir trieben. «Go this direction», hieß es. Eine halbe Stunde noch und wir wären da.

Am frühen Weihnachtsmorgen, noch bevor die Sonne aufging, kamen wir in Bethlehem an. Die Stadt erwachte gerade. Unsere Freunde, die Benediktiner, waren schon in der Geburtskirche. Wir drei waren müde und erschöpft. Am liebsten hätte ich mich gleich dort auf die Kirchenbank gelegt. – Hier also sollte alles begonnen haben. Über der Geburtsstelle Jesu war ein Altar gebaut, darunter sah man im Boden einen Stern. Und alles war so still und friedlich, Weihnachten eben. Und doch war es nur eine Idee, der wir nachgelaufen waren.

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Ich habe keine Ahnung mehr, wie wir zurückgekommen sind. Woran ich mich aber erinnere: dass ich den ersten Weihnachtstag praktisch durchgeschlafen habe und dann am Abend mit Sean, Aron und Judith eine multiethnische Studentenparty in der Ben-Jehuda-Straße besuchte, wo ich ins Staunen geriet: wie über 20 Leute von nur einem Truthahn satt werden konnten. Aber in der Gegend hier hatte das ja Tradition, dass da wer mit ein paar Broten und Fischen Tausende Menschen verköstigt. Bei uns in der Ben Yehuda Street gab es jedenfalls noch jede Menge Salate, Gebäck und Törtchen. Im Gemeinschaftsraum stimmten einige Studentinnen immer wieder «Holy Night» an, während ihre jüdischen Freunde sich einen Spaß daraus machten, den Weihnachtsgesang sogleich mit der Hatikva zu übertönen. Was für ein Lärm. Und dann erst der Kompromiss: Shantys. Seemannslieder zu Weihnachten!

Irgendwann verabschiedete ich mich und ging heim. Vom Jaffa Gate war es nur eine Gasse hoch, zwei Minuten zu Fuß.

Endlich war ich da – aber nicht drin.

Das Türschloss war so alt wie das ganze Haus. Sean hatte mir gezeigt, wie ich den Schlüssel handhaben sollte, die Türklinke etwas anheben, ranziehen, dann drehen und zack! Der Schlüssel lag abgebrochen in meiner Hand. Die Fenster im Parterre waren vergittert, damit Leute wie ich nicht einfach so einsteigen konnten.

Ein Schlüsseldienst musste her. Ich war auf eine satte Rechnung eingestellt. Eine Türöffnung war in Jerusalem womöglich sogar teurer als in Berlin, gerade an Weihnachten. Überhaupt wollte ich mich beeilen. Bevor die anderen heimkamen, sollte die Wohnung wieder begehbar sein. Ich sprach den Ersten an, der vorbeikam: «Can you help me? The door is wrong.» Er warf einen prüfenden Blick auf das Schloss. «We have to call the key service», meinte ich. Er hob die Hand: «Wait!»

Ich hatte Herrn Younan, unseren arabischen Nachbarn angehalten. So also lernte man sich kennen. Der Mann ging kurz in sein Haus und kam mit einem Werkzeugkasten zurück. Was soll der Blödsinn, dachte ich und wiederholte: «Key service? Where is the next telephone?» Herr Younan winkte ab und machte sich mit dem Schraubenzieher und einer Zange an unserem Türschloss zu schaffen. Ich grummelte noch: «Warum zur Hölle rufen wir nicht den scheiß Schlüsseldienst an?» Da unterbrach Herr Younan seine Arbeit, nahm mich bei der Hand und führte mich ein paar Meter die Straße runter an seine Wohnungstür. Dort übergab er mich seiner Frau, die mich ins Wohnzimmer brachte, wo vier Kinder, allesamt jünger als 14, gemeinsam Fernsehen schauten. Kein Weihnachtsprogramm, eher eine Art Soap, nur eben auf Arabisch. Man reichte mir ein Glas Tee und Kekse, wobei mir bedeutet wurde, ich möge mich ruhig verhalten, mich wie alle hier auf den Film konzentrieren …

Eine Stunde war vergangen, da saßen die Younan-Kinder auf dem Boden und wir zu viert auf der Couch – Sean, Judith, Aaron und ich. Inzwischen arbeitete der Nachbar sogar mit dem Schlagbohrer an unserer Tür. Die drei hatten ihn erst für einen Einbrecher gehalten. Aber ein Einbrecher benutzt kein Verlängerungskabel mit Strom von nebenan. Er nimmt dich auch nicht an die Hand und übergibt dich seiner Frau, die dich bewirtet. Ich weiß noch, Judiths Freund fühlte sich auf dem Sofa mehr als unwohl. Aber warum? Die Kinder servierten uns Kuchen – und Matchboxautos, damit wir uns nicht langweilten. Und nach und nach entspannte sich auch Aaron. Was soll’s. An der Wand hing ein Jesuskreuz, ergo beteten unsere Nachbarn einen Juden an. (Man findet doch immer irgendwelche Gemeinsamkeiten.) Auf der Kommode lag ein Adventskranz, und Weihnachten war ja wohl das Fest des Friedens «und den Menschen ein Wohlgefallen …», was ich nie so recht verstanden habe. Wohlgefallen? In dem Moment stand auch schon der Nachbar im Zimmer, freudestrahlend. «Your door is open!»

Und nicht nur das: Schon am nächsten Vormittag machte Herr Younan sich erneut an unserer Tür zu schaffen, baute ein neues Schloss ein. Sean meinte, der Mann sei darin geübt, als Hausmeister in einem Hotel. Und Judith sagte noch, wir müssten ihm seine Auslagen und die ganze Mühe bezahlen. Das hatten wir auch vor. Sean und ich fuhren am zweiten Feiertag noch einmal in die Ben-Jehuda-Straße, um nach einem Geschenk für den Nachbarn zu suchen.

In einem Blumengeschäft bat ich die Verkäuferin, eine alte Dame, uns einen Strauß zu binden, der teuer ausschaut, aber vielleicht nicht so teuer ist. «It has to look expensive, but we have not so much money …» Sean verdrehte die Augen.

«Wollen wir nicht deutsch reden?», fragte die Verkäuferin.

Ich nahm das Angebot dankbar an. Ich schätzte sie auf Mitte 70, vermutlich eine Shoa-Überlebende.

«Junge», sagte sie, «für wen sind denn die Blumen gedacht?»

Also erzählte ich ihr von meinem Missgeschick und von unseren Nachbarn, die für uns erst irgendwelche Leute waren und auf einmal Menschen – die uns mit ihrer Güte und Gastfreundschaft beschämt hatten. «Er hätte doch nur den Schlüsseldienst rufen müssen», meinte ich. Die Verkäuferin sah mich an. «Der Schlüsseldienst kommt nicht in die Altstadt», sagte sie. «Jedenfalls nicht zu Palästinensern.»

Umso mehr wollten wir Herrn Younan mit Geld entschädigen als Dank für seine Mühe. Die alte Dame aber hielt dagegen: «Macht das nicht. Ihr beleidigt ihn. Die Blumen reichen. Kauft für die Kleinen Süßigkeiten.»

Also kauften wir noch einen Berg Baklava und liefen damit zu den Nachbarn. Herr Younan aber war gar nicht daheim. Frau Younan, die sich über das Blumengesteck freute, erklärte, ihr Mann müsse Weihnachten immer im Hotel arbeiten. Und einen Augenblick später saßen wir wieder auf dem Sofa. Die Kinder freuten sich riesig über den Süßkram. Auf die Frage nach den Materialkosten für die Reparatur winkte die Nachbarin ab. Unser neues Türschloss stammte offenbar aus dem Hotel.

Vielleicht bin ich in meinem Leben an Weihnachten nie wieder so glücklich gewesen. Nie wieder habe ich Menschen kennengelernt, die so großherzig und liebenswürdig waren. Manchmal denke ich noch an die Blumenverkäuferin in der Ben-Jehuda-Straße.

«Finden Sie es nicht merkwürdig», fragte ich, «dass ich als Deutscher bei Ihnen, einer Jüdin, Blumen kaufe für einen Palästinenser?» – «Aber ganz und gar nicht! Junge, was denkst du denn? Blumen sind kosmopolitisch.»

Unser neues Schloss war keine zwei Tage alt, da klopfte es früh gegen das Fenster. «Hey! Hello-ho!» Eine helle Kinderstimme rief: «Hey! Hello-ho!»

Dazu das Klopfen gegen das Fenster, das von außen vergittert war. Der kleine Scheißer wollte keine Ruhe geben.

«Good morning! Hello-ho!»

Also öffnete ich. Und staunte nicht schlecht. Sein Vater schicke ihn.

«Who is your father?», fragte ich. Ist nicht wahr? Der Händler, der mir neulich für teuer Geld den Modeschmuck angedreht hatte? Der Junge erklärte in fließendem Englisch, sein Vater habe nicht gewusst, dass ich hier wohne. Wenn ich wolle, könne ich den Schmuck gerne zurücktauschen.

Bei dieser Geschichte handelt es sich um einen gekürzten und überarbeiteten Beitrag aus dem Sammelband «Sind Antisemitisten anwesend?» (Hg. v. Lea Streisand/Michael Bittner/Heiko Werning, Satyr-Verlag, 384 S., geb., 26 €).

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