Wie man den Kapitalismus überwindet

Die Initiative Arbeitszeitrechnung hat Ideen, wie die Produktion jenseits von Geld, Markt und Ausbeutung organisiert werden kann

  • Interview: Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 9 Min.
Das geht vernünftiger: Pro Jahr werden in Deutschland rund 55 Milliarden Arbeitsstunden geleistet.
Das geht vernünftiger: Pro Jahr werden in Deutschland rund 55 Milliarden Arbeitsstunden geleistet.

Die gesellschaftliche Linke ist derzeit schwach. Warum beschäftigt Ihr euch ausgerechnet jetzt mit einem Konzept zur Arbeitszeitrechnung?

Kistner: Die gesellschaftliche Isolation der Linken hat viele Gründe. Ein zentraler ist das Fehlen einer klaren Vision: Es gibt viel Unmut mit den Verhältnissen, aber kaum konkrete Ideen, wie Alternativen umgesetzt werden können. Die Linke würde dabei in der Öffentlichkeit attraktiver wirken, wenn sie solche hätte.

Hanke: Die Arbeitszeitrechnung ist für mich die radikalste Idee, eine sozialistische Wirtschaft konkret zu denken.

Gibt es historische Überlegungen, auf die ihr euch beruft?

Kistner: Die Idee der Arbeitszeitrechnung kam an verschiedenen Stellen auf, ausgearbeitet wurde sie von einer Gruppe niederländischer Rätekommunist*innen in den 1920er Jahren, der »Gruppe Internationaler Kommunisten«. Das Buch »Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung« ist hier sehr wichtig. Auf diese Überlegungen beziehen wir uns größtenteils.

Interview


Susi Hanke und André Kistner sind Mitglieder der Berliner »Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung« (ida). Der Verein hat sich 2021 gegründet und will dazu beitragen, über nicht-kapitalistische Ökonomien nachzudenken. Er orientiert sich an der Idee einer dezentralen Planwirtschaft auf Grundlage von Arbeitszeitrechnung, wie sie erstmals von der niederländischen »Gruppe Internationaler Kommunisten« (GIK) in den 1920er Jahren formuliert wurde.

Was sind die wesentlichen Elemente des Konzeptes?

Hanke: Das Konzept geht von einer Arbeiterselbstverwaltung aus, die Produktionsmittel gehören allen. Das Grundprinzip der Arbeitszeitrechnung ist dann der Gedanke, dass jede Arbeitsstunde gleich viel wert ist, egal ob man im Büro sitzt, putzt oder etwas anderes macht. Für ihre geleisteten Arbeitsstunden bekommen die Menschen personalisierte Arbeitszeitzertifikate, mit denen sie Konsumgüter kaufen können. Diese Zertifikate werden beim Kauf eingelöst, sie zirkulieren nicht. Außerdem gibt es zwei Sektoren: öffentliche und produktive Betriebe. Öffentliche Betriebe bieten Leistungen an, die jeder ohne Zertifikate nutzen kann, beispielsweise Schul- und Krankenhausdienste. Produktive Betriebe stellen die Güter her, die man mit Zertifikaten erhalten kann. Die arbeitenden Menschen bekommen also nicht die gesamte geleistete Arbeitszeit bezahlt, ein Teil wird für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Betriebe einbehalten. Wie groß der öffentliche Sektor ist, ist dann letztlich ein politischer Aushandlungsprozess.

Kistner: Im Grunde ist das ein planwirtschaftliches Konzept, das auf der Selbstverwaltung der Betriebe beruht. Statt mit Geld kalkulieren jedoch die Betriebe mit der Arbeitszeit als zentraler Größe. Neben der im Betrieb geleisteten Arbeit können dabei auch Produktionsmittel und Rohstoffe in Arbeitszeit dargestellt werden – sie sind das Ergebnis der Arbeit anderer Betriebe. Auf dieser Basis können Betriebe kalkulieren und Pläne erstellen. Diese Pläne werden durch eine öffentliche Buchführung geprüft und genehmigt – sie stellt das Element der öffentlichen Kontrolle dar. Die Initiative liegt jedoch bei den Betrieben.

Konsum ist in diesem Modell weiter an Leistung gekoppelt – es existiert also kein Zustand, in der jeder nur nach seinen Bedürfnissen lebt – das, was gemeinhin eine »befreite Gesellschaft« ausmacht. Handelt es sich hier um eine Art »Übergangsphase«?

Kistner: Es geht nicht darum, dass alle möglichst viel arbeiten sollen – ich sehe Arbeit hier eher als notwendiges Übel. Aus meiner Sicht gibt es drei gute Gründe für Zertifikate: Erstens verhindern sie Ausbeutung. Wenn man glaubt, dass sich in einer befreiten Gesellschaft alles von selbst regelt, übersieht man die Gefahr, dass es immer viele Tricks geben wird, sich die Arbeit anderer Menschen anzueignen. Wenn Zertifikate an die eigene Leistung gebunden sind, wird das schwieriger. Zweitens setzen Zertifikate gesamtgesellschaftlich den Konsum in Relation zum Aufwand – die Stunden, die verbraucht werden, in Relation zu Stunden, die geleistet werden. Das verhindert Ungleichgewichte. Drittens entspricht die Entlohnung der Arbeit den Gewohnheiten sehr vieler Menschen. Gerade Menschen aus der Arbeiterklasse würden es sehr befremdlich finden, wenn es plötzlich hieße, jeder soll so viel arbeiten wie er will und sich dann nehmen, was er braucht. Das entspricht nicht ihrem Gerechtigkeitsempfinden. Das Konzept der Zertifikate schafft dagegen ein transparentes System von Gleichheit und Gerechtigkeit, das viele Menschen intuitiv verstehen. Viele Linke wollen diese Phase überspringen, aber das halte ich nicht für machbar.

Grundlage des Konzepts ist eine gleiche Arbeitsstunde – können aber wirklich alle Tätigkeiten darunter gefasst werden? Und wie ist das bei unterschiedlicher Produktivität innerhalb einer Branche?

Hanke: Das politische Ziel ist ja, Diskriminierungen – etwa sexistische oder rassistische – durch unterschiedliche Entlohnung zu vermeiden. Natürlich gibt es Arbeiten, die besonders anstrengend, schmutzig oder unbeliebt sind – hier muss politisch diskutiert werden, wie diese solidarisch verteilt werden. Zum Beispiel Bergbau, eine eher gefährlichere Arbeit: Hier muss es dann darum gehen, die Arbeit den Bedürfnissen der Arbeiter*innen anzupassen, also etwa den Arbeitsschutz zu erhöhen. Man kann auch darüber nachdenken, die Arbeit zu rotieren, so dass Arbeiter*innen nicht ihr ganzes Leben im Bergbau arbeiten müssen und vielleicht nicht einmal die ganze Woche oder den ganzen Tag. Bezüglich der unterschiedlichen Produktivität sieht das Konzept generell vor, dass sich Betriebe einer Branche, die die gleichen Produkte herstellen, zusammenschließen und sich gegenseitig unterstützen. Sie berechnen dann den Durchschnittswert der benötigten Arbeitszeit pro Produkt.

Daneben wird es ja auch noch Sorgearbeit geben. Wie ist diese im Konzept integriert?

Kistner: Ein großer Teil der Sorgearbeit – von den Kindertagesstätten bis zur Altenpflege –- wird bereits heute öffentlich erbracht. Auch im Modell der Arbeitszeitrechnung würden diese Aufgaben von öffentlichen Betrieben organisiert, die Leistungen könnten ohne Zertifikate bezogen werden. Menschen, die nicht arbeiten können, werden vom Rest der Gesellschaft unterstützt.

Hanke: Generell befasst sich die Gesellschaft zu wenig mit Sorge- und vor allem Reproduktionsarbeit, obwohl hauptsächlich viele Feminist*innen sich schon seit langer Zeit viel dazu äußern und gute Ideen haben. Wie viele Arbeitsstunden umfasst Elternschaft? Das muss erst einmal jemanden interessieren, damit hier geforscht wird, um dann etwas für Gleichberechtigung zu tun. Das ist aber vor allem erst einmal ein Kampf, und das wird es auch in einer Gesellschaft mit Arbeitszeitrechnung sein. Die Gesellschaft könnte sich zum Beispiel darauf einigen, noch mehr Tätigkeiten kollektiv in Form öffentlicher Betriebe zu organisieren. Oder man könnte beschließen, dass Menschen, die sich zu Hause um Kinder kümmern, dafür Arbeitszertifikate erhalten. Feministische Kämpfe könnten die Arbeitszeitrechnung nutzen, um sukzessive viele Tätigkeiten sichtbar zu machen, die bisher unbeachtet blieben

Werden in dem Konzept auch ökologische Faktoren berücksichtigt?

Kistner: Hier gibt es keinen Königsweg. Eine Möglichkeit wäre, dass die Gesellschaft möglichst demokratisch beschließt, dass wir CO2-frei und klimaneutral leben und dies damit für alle Betriebe eine verbindliche Maßgabe wird – sie also nicht mehr mit CO2-intensiven Gütern wirtschaften dürfen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass man beispielsweise fossile Brennstoffe oder CO2-intensive Produkte über die öffentliche Buchhaltung künstlich verteuert, um die Nachfrage nach solchen Produkten schrittweise zu senken. Dies würde auch die Betriebe dazu anhalten, immer weniger dieser Güter weiterzuverarbeiten. Zugleich gäbe es ohne Profitzwang auch weniger Verschwendung und generell einen anderen Umgang mit Ressourcen und der Umwelt.

Ihr habt schon mehrfach die öffentliche Buchhaltung erwähnt. Im Realsozialismus hatten Bürokraten und Politkader eine enorme Macht, die Innovation und Selbstorganisation unterdrückte und Korruption beförderte. Wie kann das in diesem System verhindert werden?

Hanke: Innovation – zum Beispiel in Form von Forschungszentren, die als öffentliche Betriebe arbeiten – wird es auch ohne Kapitalismus geben. Durch den Wegfall von Patenten können sogar alle leichter von neuen Ideen profitieren. Zur Korruption: Die Pläne und Zahlen der Betriebe und der öffentlichen Buchhaltung sind transparent. Jeder kann nachvollziehen, wie viel Arbeitszeit in einem Produkt oder in einer Dienstleistung steckt, was in den Betrieben erarbeitet und später von den Konsument*innen verbraucht wird. Das erschwert Korruption. Wenn jetzt zum Beispiel eine Schuhfirma sagt, dass sie 1000 Stunden braucht, um einen Schuh herzustellen, werden die Leute skeptisch.

Kistner: Die öffentliche Buchhaltung ist kein staatliches Unternehmen, aber sie übernimmt eine politische Rolle, eben die Kontrolle der Betriebe. Daher ist es auch sinnvoll, dass die Buchhalter*innen ein Mandat haben und gewählt werden. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu sagen, dass die Gesellschaft in dem Konzept nicht nur aus den Betrieben und der Buchhaltung besteht – das ist nur die ökonomische Basis. Natürlich muss es auch darüber hinaus demokratische Gremien geben, etwa die Verwaltungen der Kommunen und Städte und Vereinigungen von Konsument*innen. Übergeordnete politische Entscheidungen könnten von einem allgemeinen Rätekongress getroffen werden, wobei die genauen politischen Formen erst noch geschaffen werden müssen. Diese hätten dann auch die Aufgabe, Korruption und Machtmissbrauch zu verhindern.

Warum hat es im Realsozialismus keine ernsthaften Versuche gegeben, eine geldlose Wirtschaft einzuführen?

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Kistner: Die Sowjetunion war zu Beginn weitgehend agrarisch geprägt. Der Sozialismus, auch in der Konzeption der Arbeitszeitrechnung, setzt einen sehr hohen Entwicklungsstand voraus. Zudem hatten die Bolschewiki keine wirkliche Vorstellung davon, wie eine sozialistische Wirtschaft organisiert werden sollte – sie sind quasi in diese Aufgabe hineingestolpert. Während des Kriegskommunismus zwischen 1918 und 1921 hatte man sogar kurzzeitig eine geldlose Wirtschaft ausprobiert, war damit aber gescheitert. Danach hatte man sich entschieden, die Methoden der Kapitalist*innen zu übernehmen. Arbeit wurde als Lohnarbeit beibehalten. Noch in den 1960er Jahren gab es dabei durchaus Initiativen, wo überlegt wurde, wie man die Wirtschaft anders organisieren könnte. Auch in der DDR: Die Idee der Arbeitszeitrechnung kam auch hier auf, ein Verfechter war zum Beispiel der Ökonom Friedrich Behrens, der aber eine Minderheitenposition vertrat. Man befand sich im Kalten Krieg und war in den Weltmarkt integriert – da gab es nicht mehr viel Spielraum, man wollte die bestehenden Strukturen auch nicht mehr verändern.

Was wären Bedingungen, damit das Konzept gelingen kann?

Kistner: Die Frage des Übergangs ist immer schwierig zu beantworten. Am besten wäre es, wenn es eine globale Wirtschaft gäbe, damit das Konzept gut funktionieren kann – aber so wird es natürlich nicht anfangen, sondern es wird erst einmal regional oder national begrenzt sein. Die sozialistische Gesellschaft müsste sich dann überlegen, wie sie an die Güter kommt, die es nur in marktwirtschaftlichen Kreisläufen gibt. Wir halten es für möglich, dass auch Arbeitszertifikate in Geld umgewandelt werden können. Grundsätzlich ist das Schöne an der Idee, dass diese Gesellschaft der Arbeitszeitrechnung von unten wächst, dass also immer mehr Betriebe in diese Ökonomie integriert werden können, wenn sie wollen. Aber damit das funktioniert, braucht es schon eine Mindestanzahl von Betrieben, die einen internen Kreislauf aufbauen, der das Ganze in Gang setzt.

Hanke: Wenn man es etwas herunterbricht, kann man auch an die Idee der Zeitbanken anknüpfen, die es heute schon gibt. In Spanien zum Beispiel nutzen vor allem ärmere Menschen dieses System, um sich ohne Geld gegenseitig mit Dienstleistungen auszuhelfen. Im Moment geht es darum, solche Konzepte bekannter zu machen.

Eure Gruppe will das Konzept nicht nur bekannter machen, sondern auch in der Praxis ausprobieren. Dafür habt ihr eine App entwickelt. Wie funktioniert die?

Hanke: Die App funktioniert wie ein kommunistisches Buchhaltungsprogramm. Man kann sich als Betrieb, als Arbeiter*in oder als Buchhalter*in einloggen. Wir testen sie intern, indem wir Pläne einreichen, angeben, wie lange wir an einem Projekt gearbeitet haben und uns Zertifikate schicken. Wir befinden uns im regelmäßigen Austausch mit den Programmierer*innen, um die App weiterzuentwickeln und Fehler zu identifizieren. Wenn es kommunistische Betriebe gäbe – die könnten die App schon jetzt einsetzen.

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