Die Katastrophe in der Katastrophe

Eisige Temperaturen machen das Überleben im Gazastreifen für eine Million Obdachlose noch schwieriger

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Vater und sein Sohn zünden ein kleines Feuer an, um sich in einer kalten Nacht im Gazastreifen warm zu halten.
Ein Vater und sein Sohn zünden ein kleines Feuer an, um sich in einer kalten Nacht im Gazastreifen warm zu halten.

Um die zehn Grad zeigen die Thermometer im Gazastreifen derzeit in der Nacht. Vom Meer her weht der Wind über die Küste hinweg, und bringt einen sich eisig anfühlenden Regen mit. Schon zu Normalzeiten ist das die Zeit, in der man sich sehnlichst den Sommer herbeiwünscht.

Für die Menschen im Gazastreifen ist es eine Katastrophe in der Katastrophe. Mehr als eine Million von ihnen, ungefähr die Hälfte der Bevölkerung dort, lebt nach Schätzungen des Uno-Flüchtlingshilfswerk UNRWA und der Weltgesundheitsorganisation derzeit ohne ein festes Zuhause. Und diejenigen, die noch ein Dach über dem Kopf haben, kämpfen mit zerborstenen Fenstern, ständigen Stromausfällen sowie einer nur noch sporadisch funktionierenden Wasserversorgung.

Propagandavorwürfe von beiden Seiten

Noch vor einem Jahr hatten Israels Regierung und Militär der Kriegsführung im Gazastreifen einen regelrecht chirurgischen, humanen Anstrich gegeben: Von humanitären Korridoren war die Rede, von ebenso humanitären Hilfen wurde gesprochen. Die Zivilbevölkerung solle so wenig wie möglich leiden, lautete die Nachricht der Militär- und Regierungssprecher. Davon ist nichts mehr übrig geblieben; stattdessen kommt aus den Büros der Presseabteilungen nun vor allem der Vorwurf, die andere Seite übertreibe maßlos, betreibe Propaganda; so angeblich, als der US-Fernsehsender CBS und die von der palästinensischen Autonomieregierung betriebene Nachrichtenagentur »Wafa« berichteten, mehrere Kinder seien an Unterkühlung gestorben. CBS zitierte unter anderem den Vater eines Säuglings und die Ärztin Fidda Al-Nadi aus dem Nasser-Krankenhaus in Gaza: Täglich würden ein bis zwei unterkühlte Menschen eingeliefert. Die Zahl der Frühgeburten nehme zudem zu, was am Stress der Mütter liege, und die Kinder besonders anfällig mache.

Mitte Dezember veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zudem einen Bericht, in dem sie Israel vorwirft, die Bevölkerung bewusst von der Wasserversorgung abzuschneiden; dies könne Kriterium eines Völkermords sein. Seit Kriegsbeginn sei die Wasserversorgung gezielt zerstört worden. Auch die Einfuhr entsprechender Gütern, darunter Wasserfiltersysteme, Wassertanks und Materialien, die zur Instandsetzung der Wasserinfrastruktur benötigt werden, sei unterbunden worden – ein Vorwurf, der auch die ägyptische Regierung trifft, die einen der wichtigsten Grenzübergänge streng kontrolliert. Besonders problematisch: Schon vor Kriegsbeginn waren nach Schätzung der Vereinten Nationen nur noch um die vier Prozent des Grundwassers trinkbar. Der Grund: Meer- und Abwasser vermischen sich immer mehr mit den Wasserreserven.

Überprüfen lässt sich im Detail nicht, was die eine oder die andere Seite behauptet. Sicher ist jedoch: Die Orte, an denen die Menschen Hilfe finden können, werden weniger. Vor einigen Tagen wurde nun auch das letzte noch funktionierende Krankenhaus im Norden des Gazastreifens geschlossen. Israelische Truppen hatten die Einrichtung zuvor besetzt, Ärzte und Pfleger zur Befragung abgeführt. Die Patienten wurden in das Indonesia-Krankenhaus verlegt, wo man aber nicht auf die Versorgung Schwerstkranker eingestellt ist. Die offizielle Begründung für die Schließung: In dem Krankenhaus habe sich eine Basis der Hamas befunden, und nach wie vor laute das erklärte Kriegsziel, die am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln zu befreien und die Strukturen der Hamas und des Islamischen Dschihads zu zerstören.

Hamas und Fatah sind sich spinnefeind

Seit Kriegsbeginn vor knapp 15 Monaten vermitteln Regierung und Militär den Eindruck, dass vor allem die Hamas stark geschwächt, wahrscheinlich sogar am Ende sei. Doch die Realität sieht anders aus: Im Norden des Gazastreifens stoßen die Bodentruppen nach wie vor auf erbitterte Gegenwehr. Mehr als 1400 Luftangriffe seien im Dezember geflogen worden, teilte das israelische Militär mit. Seit Kriegsbeginn seien zwischen 17 000 und 20 000 Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihads getötet worden; im Oktober 2023 hatte man die Gesamtstärke mit 25 000 angegeben. Nach Informationen der »Jerusalem Post« seien zudem bis zu 6000 Kämpfer festgenommen worden.

Ein Bericht des Fernsehsenders »Kanal 12« zieht diese Zahlen nun in Zweifel. Insgesamt gebe es noch bis zu 23 000 Kämpfer im Gazastreifen. Ob das Ziel, die Hamas und den Islamischen Dschihad zu zerstören, jemals erreicht werden kann, ist damit mehr als fraglich. Sehr wenig ist indes darüber bekannt, wie groß die Unterstützung für die beiden Organisationen noch ist. In den vergangenen Monaten gab es gegen die kompromisslose Haltung der Hamas mehrfach Proteste, die aber stets gewaltsam niedergeschlagen wurden.

Bis heute ist nicht erkennbar, welche Ziele die Hamas-Führung überhaupt verfolgt. Und damit auch: Was nach jenem Tag mit dem Gazastreifen und seinen Menschen passiert, an dem der Krieg durch einen Waffenstillstand zu Ende geht. Anfang Dezember hatten sich Vertreter der Hamas und der Fatah, die die offizielle palästinensische Regierung im Westjordanland dominiert, in Kairo auf die Bildung eines Gremiums aus unabhängigen Technokraten geeinigt, das den Gazastreifen künftig führen und unter die Kontrolle der Autonomiebehörde zurückbringen soll. Zweifel daran sind angebracht: Seitdem die Hamas 2007 die Kontrolle in Gaza übernahm, hatten sich Hamas und Fatah sehr oft auf gemeinsame Regierungen geeinigt und waren damit genauso oft gescheitert: Die Unterschiede zwischen beiden Fraktionen sind zu groß.

Ein Wiederaufbau wird ohne Unterstützung der internationalen Gemeinschaft unmöglich sein. Nach dem letzten großen Krieg 2014 hatte die Hamas jedoch Baumaterialien, die für den Wiederaufbau bestimmt waren, für den Tunnel- und Waffenbau abgezweigt – trotz der Blockade Israels und Ägyptens, die das eigentlich hatte verhindern sollen.

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