Frieden über Abdullah Öcalan

Die türkische Regierung muss für eine nachhaltige Lösung mit der kurdischen Freiheitsbewegung sprechen

  • Devriş Çimen
  • Lesedauer: 4 Min.
Eine syrische Kurdin hält ein Porträt des inhaftierten Abdullah Öcalan.
Eine syrische Kurdin hält ein Porträt des inhaftierten Abdullah Öcalan.

Ende Oktober schlug Recep Tayyip Erdoğans Regierungspartner Devlet Bahçeli von der faschistischen MHP-Partei überraschend vor, den zu lebenslanger Haft verurteilten Gründer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan auf Bewährung freizulassen – wenn er der »Gewalt abschwört und die PKK auflöst«. Erdoğan reagierte darauf mit der Aussage, die Türkei müsse Probleme lösen, anstatt sie zu ignorieren.

Obwohl die Türkei ihren Krieg gegen die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (AANES) in den vergangenen Wochen intensiviert hat, gab es in der Folge vorsichtige Bewegungen. Zunächst konnte Ömer Öcalan, Abgeordneter der DEM-Partei, seinen seit 1999 inhaftierten Onkel im Rahmen eines »Familienbesuchs« treffen. Dann durften die DEM-Abgeordneten Sirri Süreyya Önder und Pervin Buldan Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali sprechen. Es waren die ersten Außenkontakte für Abdullah Öcalan nach 43 Monaten der Totalisolation. Seine Botschaft lautete: »Wenn die Bedingungen gegeben sind, habe ich die [...] Kraft, diesen Prozess von der Grundlage des Konflikts und der Gewalt auf eine rechtliche und politische Grundlage zu lenken.« Die gesamte Freiheitsbewegung Kurdistans hat angekündigt, Öcalan in diesem Fall zu unterstützen.

Schon bevor der PKK-Gründer im Februar 1999 von westlichen Geheimdiensten in die Türkei verschleppte wurde, hatte er seine Bereitschaft zu Verhandlungen bekundet. Immer wieder hatte er erklärt: »Ich suche einen Ansprechpartner für eine friedliche Lösung des Konflikts.« Doch der türkische Staat sabotierte in der Folge jeden Dialogversuch. Besonders deutlich wurde dies 2015, als Erdoğan den sogenannten Friedensprozess einseitig beendete und einen grenzüberschreitenden Krieg entfachte, der auch Syrien und den Nordirak erfasste.

Die Türkei müsste nicht über, sondern mit Vertreter*innen der kurdischen Freiheitsbewegung sprechen.

Die antikurdische Paranoia, die sich in der Türkei breitgemacht hat, hat das Land in eine andauernde politische, soziale und wirtschaftliche Krise abgleiten lassen. Der gesellschaftliche Verfall zeigt sich auf allen Ebenen: Der Staatsapparat ist zutiefst antidemokratisch, Erdoğan nutzt jedes Mittel, um seine Macht zu erhalten. Doch der rasante Zerfall des Assad-Regimes in Syrien hat gezeigt, wie schnell autoritäre Systeme zusammenbrechen können.

In Syrien hat sich die Türkei politisch, logistisch und strategisch hinter die islamistischen Gruppen gestellt: hinter die Syrian National Army (SNA), den Islamischen Staat und die nun siegreichen HTS-Milizen. Gemeinsam mit diesen Gruppen hat sie seit 2016 die nordsyrischen Gebiete um Dscharabulus, Afrin, Girê Spî (Tall Abyad) und Serê Kaniyê (Ras al-Ain) besetzt und nun eine neue Offensive gegen die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens gestartet.

Hier zeigt sich ein offensichtlicher Widerspruch. Einerseits wird von einer möglichen »Lösung« der kurdischen Frage gesprochen, andererseits eskaliert das Regime in Ankara Krieg und Repression. Seit den Kommunalwahlen 2023 wurden acht demokratisch gewählte Bürgermeister*innen, unter anderem in Mardin, Hakkari, Batman und Dêrsim abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt. Proteste dagegen wurden niedergeschlagen, Hunderte Menschen festgenommen. Mehr als 10 000 Personen, darunter ehemalige Abgeordnete, Bürgermeister*innen und Journalist*innen, sitzen in türkischen Gefängnissen.

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Die Lage ist bizarr: In den türkischen Medien debattieren Kriegsbefürworter*innen und Demokratiefeinde die kurdische Frage. Doch wenn das Land wirklich entschlossen wäre, den Krieg zu beenden, wäre die Lösung sehr einfach: Die Türkei müsste nicht über, sondern mit Vertreter*innen der kurdischen Freiheitsbewegung sprechen. Abdullah Öcalan hat erklärt, dass er dazu bereit wäre. Seine letzte Botschaft wurde von den beiden DEM-Abgeordneten Ende Dezember übermittelt. Darin heißt es: »Für den Erfolg des Prozesses ist es unerlässlich, dass alle politischen Kreise in der Türkei […] konstruktiv handeln und positive Beiträge leisten [...]. Einer der wichtigsten Orte für diese Beiträge ist das Parlament.«

Das Projekt des demokratischen Konföderalismus könnte Grundlage einer demokratischen, ökologischen, plurinationalen und nicht-patriarchalen Gesellschaft sein – nicht nur in Kurdistan, der Türkei und Syrien, sondern im gesamten, von Konflikten erschütterten Nahen und Mittleren Osten. Die Türkei sollte den Krieg beenden und es wagen, sich zu demokratisieren und dieser politischen Debatte zu stellen.

Devriş Çimen ist Journalist und Aktivist der kurdischen Freiheitsbewegung.

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