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Splitter, die man nicht beiseitelegt
Esther Dischereit hat mit »Ein Haufen Dollarscheine« einen autofiktionalen Roman über ihre jüdische Familie geschrieben
Absurd, traurig, tragikomisch, bizarr. Diese Adjektive passen alle auf den neuen Roman »Ein Haufen Dollarscheine« von Esther Dischereit. Eine autofiktionale Geschichte, weder chronologisch noch linear erzählt. Zu Beginn legt die Autorin eine Spur: »Es bleibt eine Merkwürdigkeit, dass ich von Dingen berichte, als wäre ich dabei gewesen. Wahrscheinlich ist mir so, als wäre ich dabei gewesen. Wie eine Stellvertreterin, oder ich hätte mehrere Identitäten, die ich mal hierhin mal dahin vergebe.«
Es ist die Geschichte ihrer jüdischen Familie im weitesten Sinne, die Dischereit, geboren 1952 im südhessischen Heppenheim, in einer polyphonen Weise aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Nicht immer ist klar, wer spricht. Die Handlung spielt auf mehreren Zeitebenen in diversen Ländern, ausgestattet mit einem nahezu unüberschaubaren Personal von dostojewskischem Ausmaß. Es geht in diesem Roman um die Aus- und Nachwirkungen der Shoah auf das Leben einer weitverzweigten Familie bis in die Gegenwart, das ist geprägt von Verfolgung, Untertauchen, Verstecken und Überleben. Das Leben im Exil, in den USA, in Israel/Palästina wird ebenso betrachtet wie das Verhältnis zum Judentum und die skandalösen Begriffe des NS-Nachfolgestaates BRD wie »Entschädigung« und »Wiedergutmachung«.
»Alle, die in dieser Welt zu Hause waren, legen Splitter beiseite oder legen sie nicht beiseite oder rahmen sie ein. Aber jedes Mal fehlen Teile, Hunderte. Es will kein Bild entstehen. Außerdem legen sie manchmal die Splitter andersherum, dann passen die zuvor gelegten Splitter nicht mehr.« Jeder Versuch, dieses Szenario nachzuerzählen, muss unvollständig bleiben, was auch die feine Coverzeichnung von beate maria wörz andeutet, die eine Landkarte von verschiedenen, handschriftlich skizzierten Szenen zeigt.
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Esther Dischereits Mutter, Hella Freundlich, ist verheiratet mit Felix Zacharias. Sie haben eine Tochter: Hannelore. Sie wohnen in Berlin in der Bornholmer Straße. Da im Sommer 1943 die Deportation der Familie zur Vernichtung in die Lager anberaumt ist, tauchen Hella und Hannelore unter. Sie wechseln häufig den Aufenthaltsort bis sie in Sorau, dem heute polnischen Żary, landen. Auf anderem Wege taucht Vater Felix unter. In Żary werden Hella und Hannelore denunziert und von dem Eisenbahner Fritz Kittel gerettet, der sich beider annimmt und versteckt. Hannelore gibt er als seine Nichte aus, sodass sie unter seinem Namen die Schule besuchen kann. Eine ungemein mutige Tat, mitten im Krieg unter einer faschistischen Diktatur. Esther Dischereit sagt dazu in einem Film, der 2023 Teil einer Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt war: »Ich habe mich immer wieder damit beschäftigt, warum jemand hilft.« Eine schlüssige Antwort im Fall des Eisenbahners Fritz Kittel liegt bislang nicht vor.
Etwas später, die Front rückt näher, wird Kittel nach Hessen versetzt. Er überredet Hella und Hannelore, ihn zu begleiten, obgleich sie durch die näher rückende Rote Armee früher von der Verfolgung durch das NS-Regime befreit worden wären. An seinem neuen Einsatzort in Heringen (Werra) deklariert Kittel mittels gefälschter Papiere Hella zu seiner Ehefrau und Hannelore zur gemeinsamen Tochter. In einem Interview mit Deutschlandradio Kultur spricht Esther Dischereit von 17 weiteren Personen, die an dem Überleben von Mutter und Schwester helfend beteiligt waren.
Kein Wunder also, dass im nachgestellten Apparat der Roman ein Register mit fast 60 Personen und Kurzcharakteristiken enthält sowie eine Auflistung von 20 Orten der Handlung. Zentral ist der Dialog zwischen der in Berlin lebenden Tante und dem schwarzen Neffen, dem Sohn von Hannelore und Harold Bradley, afroamerikanischer Aktivist. Hannelore, die ältere Halbschwester von Esther Dischereit aus der Ehe der Mutter mit Felix Zacharias, lernte den ehemaligen GI Harold in Italien kennen, wo er Kunstgeschichte studierte. Im Gegensatz zu seiner Mutter Hannelore, die für ihn eine »Closet Jew« wäre und mit Vergnügen voluminöse Schweinshaxen verspeist, bekennt er sich nicht nur zum Judentum, sondern auch zu einer Nähe zur Orthodoxie.
Es werden so viele thematische und auch biografische »Splitter« im Roman aufgenommen und auch wieder fallengelassen, dass diese Erzählweise vielleicht als Ausdruck des Disparaten und der zerrissenen Biografien und Identitäten jüdischer Menschen nach der Shoah und in der Diaspora gelesen werden könnte. Dennoch hätte eine mehr lineare Erzählweise dem Roman gutgetan. Nichtsdestotrotz enthält er viele starke Szenen, die eine Lektüre unbedingt lohnen. Woher kommt der Titel »Ein Haufen Dollarscheine«? Er basiert auf den vielen Briefen des Großvaters aus den USA an die Autorin, die immer eine Ein-Dollar-Note enthielten.
Esther Dischereit: Ein Haufen Dollarscheine. Maro-Verlag 2024, 312 S., geb., 24 €.
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