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»Die Kämpfs«: Fünf Länder in einem Dorf

Landolf Scherzer schrieb eine Thüringer Familiengeschichte: »Die Kämpfs«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Hochzeit der Kämpf 1929
Die Hochzeit der Kämpf 1929

Die einen haben eine Biografie, andere nur einen (tabellarischen) Lebenslauf. Die einen kommen nicht ohne fortwährende Selbstentwürfe und Selbsterfindungen aus, um sich den Eintönigkeiten des Daseins in den Weg zu stellen, andere akzeptieren früh die Gefangenschaft im Zwangsläufigen.

Lebens Lauf: Für den Reporter Landolf Scherzer war das stets auch Weltenlauf. Vor allem Weltenhoffnung. Denn Rot lockte der Stern über den Segelschiffen der Utopie. Bis aus DDR Osten wurde. Nun scheint es ausgeblichen, das Firmament. Scherzer, dieser leidenschaftlich recherchierende Sozial-Abenteurer, schreibt in dieser Lage, für ihn selbst überraschend, eine Familiengeschichte aus unmittelbarer Umgebung – als müsse er eine Schockstarre überwinden. Er fragt nicht nur Leute, er fragt sich: Warum das Dorf statt der Weite? »Weil ich nicht mehr neugierig bin auf das Heute der großen Weltpolitik? Oder weil ich hinter den Lügen … die einfache Wahrheit nicht mehr finde?«

Das Einfache? Es war doch nie der Stoff dieses Vielfalts-Chronisten. Mit der Geschichte der Thüringer Familie Kämpf aus Benshausen – Dienstmädchen und Bauern, Gewehrmacher und Gewerbelehrer, Gläubige und Genossen – schreibt er ein Buch gegen das Klischee von den sogenannten kleinen Leuten.

In dem Buch kommt der Satz eines Familienmitglieds vor: »Wäre ich bloß nie geboren worden.« Aber auch diese Sätze: »Wir haben über Politik gesprochen und uns dabei fast nicht verstanden. Ich bin froh, dass wir uns trotzdem eins fühlen.« Da ist also nichts einfach, da ist manches traurig, mehr noch tapfer. Marianne Stracke, geborene Kämpf, bringt Existenz auf den Punkt: Niemand könne sich »aus den Zwängen seiner Zeit befreien. Gestern nicht, heute nicht und an keinem Ort der Welt.« Dies also zu dem engen Spielraum und großen Kosmos zwischen Schicksal und Selbstbestimmung, zwischen Gestaltungskraft und zufälliger Erfahrung.

Was bewegt Menschen, ihr Leben aufzuschreiben? Es ist ein Gefühl für die tiefen Vergangenheitsschichten unter aller Gegenwart. Marianne Stracke hatte über Jahre die Geschichte ihrer verzweigten wie wurzelfesten Familie notiert und Zeugnisse bewahrt, Tagebücher und Briefe. Zwei Pappkartons. Einer ihrer fünf Söhne bringt sie nach Mariannes Tod 2004 zu Scherzer ins benachbarte Dietzhausen. Lange bleiben sie unberührt liegen. Der Reporter hatte die einstige LPG-Chefin zehn Jahre zuvor bei einer Rennsteigwanderung zufällig kennengelernt. Es war eine Briefverbindung entstanden, Marianne nennt Scherzer einen »Mutmacher« oder den »lustigen Landolf«; viele ihrer Briefe sind Antworten auf das, was den Autor peinigt: »Und nun fragst Du mich, was das Schreiben noch soll?« April 1999.

Das Buch selbst gibt Antwort: Ehrliches Schreiben ist Selbsthilfe. Ist Zuversicht, es finde sich im Austausch eine offene Stelle, an der die Welt lächelt und sagt: Nichts wird besser, aber du bist nicht allein. Das ist doch schon sehr viel. Scherzer trank mit Marianne Stracke manchen Benshäuser Bärwurzschnaps, und irgendwann geht er an die Arbeit: die Kartons! Und der Gesprächs-Weg in die Familie hinein. Auf blättert sich eine Geschichte von Kaisers Zeiten bis zu den staatssozialistischen Neuerungen, Nischen und Nöten. Das politisch Rote und Schwarze und das kriegerisch Braune färbten die Beziehungen ein, machten grell oder grau, schufen Verfeindungen, aber auch Klarheiten. Herausgeber Jens-Fietje Dwars spricht im Nachwort von »deutsch-deutscher Zerrissenheit, aus fünf Deutschländern«.

Der Autor schreibt in strengstem Selbstzwang zur Differenzierung, er weiß: Fast aller Idealismus endet in der Erkenntnis, dass am Ende weniger dran wahr, als man lange Zeit dachte. Trifft dies nicht auf so viele politische Bewegungen zu? Man ist dabei, aber doch nicht ganz drin, man ist mitschuldig und unschuldig auch. So hat Scherzer ein Buch geschrieben gegen alle, die aufs Vergangene einen kolonialistischen Blick werfen: Sie erfassen und richten aus der Perspektive einer späteren Zeit und meinen, das Frühere genauer zu kennen, als Beteiligte sich erinnern. Lesend ertappe ich mich, wie ich alte Frequenzen aufreize und sie mir durch den Kopf schwingen lasse: Familie, Gebundenheit, Tradition, Heimat.

Wenn die Natur, wie der französische Philosoph Pierre Bayle sagte, eine Art Krankheitszustand ist und der Mensch weit mehr zum Bösen als zum Guten neigt; wenn es, wie der Misanthrop Molière meinte, eine Narrheit ohnegleichen wäre, sich in die Verbesserung der Welt zu mischen; wenn wir täglich an uns und anderen beobachten, dass wir nicht reden, wie wir denken, und nicht handeln, wie wir reden – wenn das alles stimmt, soll man sich dann ungerührt die Hände waschen, sich vergnügt an den Essenstisch setzen, sich gewöhnen an nicht änderbare Zustände?

Scherzer, witterungsbegabt für Umbrüche, könnte so nicht bestehen, nicht vor sich selbst. Groll liegt ihm nicht, Traurigkeit aber wehrt er nicht ab. Er bleibt ein Seismograf für böses Erwachen im Mahlwerk Geschichte, aber ebenso, noch immer, ist er ein Feinfühler für hartnäckige Träume. Lessing träumte von der Erziehung, Goethe von der Bildung, Schiller von der Würde, Heine von der Freiheit, Brecht von sozialer Gerechtigkeit. Wie soll man leben – wenn man denn überhaupt (Krieg, Katastrophen, Krebs) am Leben sein darf?

Scherzer reportiert, was jeder Mensch wohl allabendlich bilanzieren muss: Ich bin auch heute wieder hinter mir zurückgeblieben. Aber seltsam, dem Narkotikum Sehnsucht tut das keinen Abbruch. Sehnsucht wiederholt sich auch in Benshausen, als gäbe es keinerlei sie widerlegende Erfahrung. Keine Sehnsucht ist zu Ende zu bringen.

Was kleine Leute seien? Von »unheldischen Helden« spricht Dwars im Nachwort. Auch die Kämpfs: Kinder des Chaos, die einen tapfer, die anderen töricht, die einen so verflucht verführbar für Krieg und andere dann so verflucht unglücklich noch im Frieden – hinterm deutsch-sowjetischen Stacheldraht, der auch Thüringen durchzog. Archaisch bitter, berührend: Artur Kämpf quält sich 1944 durch ukrainischen Sumpf. Greift zum letzten Kanten Brot. Plötzlich ein Russe. Zwei Feinde, ein Brot. Artur bricht das Brot. Und sagt später seiner Tochter Marianne: »Ein kleines Leut war der, einer, der dem Tod entkommen wollte. Wie unsereiner. Nicht mehr und nicht weniger.«

Scherzer hat zum Thema auch 20 »fremde« Auskünfte eingeholt, sie in die Kämpf-Geschichte eingebettet: Künstler, Handwerker, Jüngere und Ältere, ein Gesellschaftsquerschnitt. Kurze Repliken vom Zufall, zur Welt zu kommen, und vom Kampf darum, nicht zu kurz zu kommen. Kleine Leute? Das klingt wie kleiner Bürger. Kleiner Bürger zu sein, das ist Emanzipation! Ist Befreiung von der menschlichen Maßlosigkeit, zu leben und auch noch groß darüberstehen zu wollen. Maß! Davon verstehen die Kämpfs etwas, Artur war der Schneider von Benshausen! Maß nehmen heißt auch: Maß halten, hart und heiter. Kein Zustand, ein Kampf.

Ich blicke auf das Cover des Buches. Fernblick auf eine Thüringer Landschaft. Wälder, Wiesen, Felder. Die vielen Schichten Grün wirken wie Schichten der Geschichte; im Vordergrund ein kleines Dorf, hingetupft, eingebunden ins Grün und doch ungeschützt, wenn man an deutsche Jahrhunderte denkt. Thüringen: kaum eine Gegend der Elementarkräfte. Hier weiß jeder zu erzählen von den Schönheiten des Gemäßigtseins; ein jeder weiß, wie es ein anderer Dichter vor Jahrzehnten schrieb, nämlich der Wahl-Gothaer Hanns Cibulka, »dass der Apfelbaum seine Zeit braucht zum Wachsen, und der Mensch, der dieses Wachstum täglich vor Augen hat, in vielen Dingen ein anderer ist als jener, der das Machbare selbst noch auf die Unendlichkeit überträgt«.

Das Buch ist ein Religionsdokument: Es glaubt – an den Menschen. Ja. Unpathetisch, detailbewusst entfaltet es eine schöne Fürbitte: doch immer mit sich selbst (und den Seinen und der Welt!) in einer sorgsamen, sorgebewussten Zwiesprache zu bleiben. Und vielleicht beginnt Literatur dort, wo sich ins Erinnern auch Erzählungen mischen, von denen man gar nicht erzählen wollte. Scherzer ist in diesem Sinne ein zugewandter, herzensoffener Fallensteller. Auch das macht dieses Buch zum Erlebnis.

Landolf Scherzer: Die Kämpfs. Eine Thüringer Familiengeschichte oder Die große Kraft der kleinen Leute. Hrsg. u. mit einem Nachwort v. Jens-Fietje Dwars. Edition Ornament im Quartus-Verlag, 280 S., geb., 25 €.

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