IG Metall in Berlin: Schlüsselbranche Digitalwirtschaft

Berliner Wirtschaft geht es vergleichsweise gut – IG Metall will neue Branchenzweige erschließen

Sinnbild der Digitalwirtschaft und Start-up-Szene: Das Investorenprojekt Mediaspree
Sinnbild der Digitalwirtschaft und Start-up-Szene: Das Investorenprojekt Mediaspree

Jan Otto zeigt sich einigermaßen gelassen. Das überrascht auf den ersten Blick, schließlich vertritt der Chef der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) Berlin, Beschäftigte einer Branche, die zuletzt mit einer Betriebsschließung nach der anderen in der Öffentlichkeit stand. Jeden Tag aufs Neue übertreffen sich Expert*innen im Abgesang auf den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Ein robustes Zugpferd

Doch in der Hauptstadt beobachtet Otto eine »robuste Industrie«. »Die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Unternehmen bekommen wir hier kaum zu spüren«, sagt er. Es werde zwar auch in diesem Jahr in Berlin zu Einschlägen kommen, die würden aber aller Voraussicht nach nicht so gravierend ausfallen wie im Bund.

Auch die landeseigene Investitionsbank Berlin (IBB) sieht das Land vergleichsweise gut dastehen. An der Spree wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2024 um 1,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Für 2025 werden 1,5 Prozent Wachstum prognostiziert. Im Gegensatz dazu geht die Bundesbank für 2024 von einem deutschlandweiten Rückgang der Wirtschaft um 0,2 Prozent und für 2025 von einem geringen Wachstum von ebenfalls 0,2 Prozent aus. Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) hatte Berlin im Dezember daher zum Zugpferd der deutschen Wirtschaft erklärt, angesichts des elften Jahres in Folge, in dem Berlin deutlich über dem Bundesdurchschnitt gelegen habe.

Jan Otto erklärt die relative Resilienz mit der ökonomischen Vielfalt in seinem Zuständigkeitsbereich. In Berlin sei kaum Automobilwirtschaft angesiedelt, sagt er. Insbesondere die Produkte der Energiewirtschaft seien sehr gefragt. »Beispielsweise das Gasturbinenwerk von Siemens Energy boomt«, sagt Otto.

Berliner Tech-Avantgarde

Darüber hinaus hat die IG Metall die Digitalwirtschaft als entscheidendes Terrain ausgemacht. Man sei nach wie vor dabei, die immer noch recht junge Branche überhaupt erst vollständig zu kartieren, sagt Gewerkschafter Otto. Von den etwa 130 000 Beschäftigen in der Branche würden allein 100 000 im Erschließungsgebiet der IG Metall Berlin liegen. Das sei in etwa so viel wie in der klassischen Industrie. Die würden Spiele und Musik-Apps entwickeln oder im Bereich der Cybersicherheit arbeiten, sagt Otto. Viel häufiger seien sie aber mit der Entwicklung von hintergründiger Tiefensoftware befasst, wie man sie etwa vom Elektroauto kenne.

Der Zweite und der Erste Bevollmächtigte: Philipp Singer (3.v.l.) und Jan Otto (4.v.l.) während der Neujahrspressekonferenz der IG Metall Berlin.
Der Zweite und der Erste Bevollmächtigte: Philipp Singer (3.v.l.) und Jan Otto (4.v.l.) während der Neujahrspressekonferenz der IG Metall Berlin.

Die Berliner Geschäftsstelle habe von der Gesamtorganisation nicht nur den Auftrag erhalten, die Digitalwirtschaft der Hauptstadt zu erschließen. Sie solle auch wertvolle Informationen über Unterschiede und Zusammenhänge mit traditionellen Industriezweigen sammeln. Allerdings sei auch in historisch gewachsenen Unternehmen ein immer größerer Teil der Belegschaften – der IG-Metall-Chef nennt 30 Prozent – mit Tätigkeiten der Digitalwirtschaft betraut. Bestes Beispiel: Cariad, die Softwaresparte von Volkswagen, mit 1800 Mitarbeiter*innen in Berlin, für die ein bundesweiter Haustarifvertrag gilt.

Herausforderungen von heute und gestern

Seit Juli vergangenen Jahres würde ein fünfköpfiges Team dezidiert Betriebe der Digitalwirtschaft ansprechen und bei Betriebsratsgründungen und Tarifbewegungen unterstützen, heißt es in einer Mitteilung der IG Metall Berlin. Zwei aktuelle Tarifvorhaben würden verdeutlichen, dass man auf einem guten Weg sei. Zum einen versuche man einen Tarifvertrag für die knapp 100 Beschäftigten von Rolls Royce Solutions abzuschließen. In Berlin entwickelt das global tätige Unternehmen Speicher- und Antriebstechnik für regenerative Energien, produziert andernorts aber vor allem Triebwerke und Komponenten für die zivile und militärische Luftfahrt. Während die IG Metall bei Rolls Royce Solutions vor allem neue Ansätze und Taktiken ausprobiere, werde ein Abschluss bei einem weiteren Unternehmen mit 1000 Beschäftigten – dessen Namen Otto am Montag noch nicht nennen wollte – eine Signalwirkung in die ganze Branche haben.

»Es kommt vor, dass du innerhalb eines Unternehmens 4000 Euro verdienst und eine Kolleg*in für die gleiche Arbeit 7000 Euro.«

Jan Otto IG Metall Berlin

Die Arbeitsbedingungen sind häufig ein Defizit der auf Fortschritt getrimmten Branche, sagt Otto. »Es kommt vor, dass du innerhalb eines Unternehmens 4000 Euro verdienst und eine Kolleg*in für die gleiche Arbeit 7000 Euro.« Um die Beschäftigten zu organisieren, müsse man neue Wege gehen. Dabei sei es allein vor dem Hintergrund des mobilen Arbeitens eine Schwierigkeit, Räume zu finden, in denen die Belegschaft zusammenkommen könne. Die sei wiederum vor allem jung und der Herkunft nach vielfältig. Das gehe mit entsprechenden Herausforderungen einher. Otto erzählt von einer Türkin bei Rolls Royce Solutions, die sich über die Arbeit eines Betriebsrates und die Rechte einer Gewerkschaft erkundigt habe. In der Türkei werde man nämlich für gewerkschaftliches Engagement verfolgt. Insofern komme der IG Metall in der Digitalwirtschaft – mehr noch als in der traditionellen Industrie – die Rolle zu, über Möglichkeiten der Organisierung aufzuklären und das Gerechtigkeitsempfinden bei den Kolleg*innen zu schärfen.

Doch nicht alles ist neu in der New Economy. Beim sogenannten Union Busting etwa, also bei dem Versuch, Gewerkschaftsarbeit zu unterbinden, sieht Otto Probleme: »Hier stellen wir in der Digitalwirtschaft Verhalten auf Arbeitgeber*innenseite fest, das wir so aus den traditionsreichen Betriebszweigen gar nicht mehr kennen.« Die Branche sei zwar neu, sagt Otto, doch die Mitbestimmung in den Unternehmen mitunter »mittelalterlich«.

Außerparlamentarische Opposition

Ähnlich wie sich die Berliner Industrie vom Bundestrend abhebt, zeichnet sich auch mit Blick auf rechte Umtriebe ein anderes Bild. »Wir registrieren in den Berliner Betrieben kaum rechte Tendenzen«, sagt Jan Otto. »Wir merken aber, dass sich die Beschäftigten Sorgen machen und erkennen, dass sich die Bundespolitik nicht ausreichend und in der geeigneten Art für die Industrie und Beschäftigtensicherheit einsetzt.« Von daher sei es für die Gewerkschaft entscheidend, inwieweit es gelinge, die Rolle der außerparlamentarischen Opposition, des Korrektivs der Parteienpolitik auszufüllen. Otto sagt weiter: »Hierbei bleiben bisher aller Parteien hinter den gebotenen Notwendigkeiten zurück.« Er nennt die ausbleibende Absenkung des Industriestrompreises als Beispiel.

Um die Auswirkungen der Versagungen in den Betrieben abwehren zu können, sei aber die Organisierung der Belegschaften eine Grundvoraussetzung, erklärt Otto. »Wenn ein Betriebsrat, erst im Moment des Stellenabbaus auf uns zukommt, hat man das Handlungsfenster, in dem man noch effektiv hätte dagegen agieren können, in der Regel verpasst.« In solchen Fällen werde die IG Metall daher nicht mehr aktiv, meint der Gewerkschaftschef. In Berlin seien solche existenziellen Bedrohungen aber nach wie vor die Ausnahme: »Was die Kolleg*innen hier eher umtreibt, sind vor allem die altbekannten Themen: Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Wohnen und Mobilität.«

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