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Holocaust-Gedenktag: Mehr Erinnerungskritik wagen

Yossi Bartal fragt, ob es nicht besser wäre, die Vergangenheit ruhen zu lassen.

Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Irgendwie passt es, dass der triste Januar in Berlin ein Monat des Gedenkens ist. Auf den Neujahrskater und die inzwischen ritualisierte Debatte über Feuerwerk und dessen vermeintlichen Migrationshintergrund folgt kurz darauf die traditionsreiche Luxemburg-Liebknecht-Demo – der kommunistische Heilige-Drei-Könige-Ersatz mit Tausenden Teilnehmern, begleitet von einigen misstönenden Schalmeien und Hunderten gewaltbereiten Polizisten. »Die Toten mahnen uns«, steht auf dem Denkmal im Lichtenberger Friedhof – und so glauben die dort versammelten Anhänger*innen des wissenschaftlichen Sozialismus, ähnlich wie bei vielen anderen Märtyrerkulten weltweit, Kraft und Orientierung aus den legendären Vorfahren schöpfen zu können.

Später im Monat wird noch Millionen weiterer Opfer rechter Gewalt gedacht – wenn das offizielle Berlin den Internationalen Holocaust-Gedenktag begeht, an dem Tag, an dem das Todeslager Auschwitz durch die Sowjetunion befreit wurde. Rund um den Bundestag kann man am 27. Januar Volksvertreter beobachten, von der AfD bis zur Linken, die sich unter dem Hashtag #WeRemember ablichten lassen und sich gegenseitig versichern, aus dem vergangenen Massenmord das Richtige gelernt zu haben – wenn auch mit teilweise unterschiedlichen Schlussfolgerungen.

Der Gedanke, man sollte aus der Geschichte lernen, wie man ihre Fehler nicht wiederholt, ist heute global vorherrschend – als könnte man das historische Geschehen zu einem praktischen Anweisungsbuch machen. Erinnerung gilt heutzutage als hohes Gut – sogar als moralischer Akt – und wird staatlich wie privat gefördert. Im Judentum ist es gar eine religiöse Pflicht, die nationale Verfolgungsgeschichte an die Nachfahren weiterzugeben. Die negativen Aspekte der Erinnerung hingegen werden seltener beleuchtet.

Eine Ausnahme stellt das Buch In Praise of Forgetting (2016) von David Rieff dar, das bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Dort argumentiert der ehemalige Kriegsjournalist, wie geschichtliche Aufarbeitung gesellschaftliche Traumata wiederbelebt und in vielen Fällen hinderlich auf eine Versöhnung wirkt. »Während Vergessen der Vergangenheit Unrecht tut, tut Erinnern der Gegenwart Unrecht«, schrieb er dort und verwies auf bedeutende Demokratisierungs- und Friedensprozesse, die nur durch aktives Vergessen vergangener Verbrechen aller Konfliktparteien – zumindest für eine bestimmte Zeit – ermöglicht wurden.

Yossi Bartal

Yossi Bartal ist seit 2006 ein begeisterter Wahl-Neuköllner. Aufgewachsen in West-Jerusalem lernte er früh, dass Selbsthass die edelste Form des Hasses ist. Mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber Staat und Gesetz schreibt er für nd.Digital jeden dritten Montag im Monat über Parallelgesellschaften, (Ersatz-) Nationalismus und den Kampf für eine bessere Welt.

Ähnlich argumentierte auch der Holocaustüberlebende und Historiker Yehuda Elkana. Inmitten der ersten Intifada im Jahr 1988 veröffentlichte er seinen wegweisenden Artikel »Die Notwendigkeit, zu vergessen«. Darin thematisierte er die faschistoiden Tendenzen in der israelischen Gesellschaft, die aus einer übermäßigen Beschäftigung mit dem Holocaust resultieren. Sowohl Elkana als auch Rieff warnten davor, dass eine Fokussierung auf die historische Opferrolle Rachegelüste und nationalistische Selbstgerechtigkeit fördern kann.

Eine Antwort darauf war bis jetzt nicht weniger, sondern mehr Erinnerung zu wagen – und zwar eine solche, die sich auch mit der Täterschaft des eigenen Kollektivs auseinandersetzt. So kommen langsam, für viele viel zu langsam, in Schulbüchern und Massenmedien auch die wenig rühmlichen Aspekte der westlichen Imperien ans Licht: vom Sklavenhandel über koloniale Massaker bis hin zu den dazugehörigen rassistischen Ideologien.

Dennoch ist nirgendwo in der Welt die kritische Aufarbeitung der eigenen Verbrechen so zentral wie im wiedervereinigten Deutschland – vor allem wenn es um die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft geht. Es gibt mittlerweile mehr als 300 Gedenkstätten für Nazi-Opfer im deutschen Staatsgebiet, die um die Hunderttausend Stolpersteine nicht eingerechnet. Und während es in Israel nur einen Holocaust-Gedenktag gibt, wird hierzulande nicht nur am 27. Januar, sondern auch am 9. November und am 8. Mai an die NS-Zeit erinnert. Deutschland ist unbestritten der Erinnerungsweltmeister und wird von vielen dafür bewundert.

Die vergangenen Jahre in Deutschland haben aber vor Augen geführt, wie die zelebrierte Erinnerungskultur, abgesehen von philosemitischen Auswüchsen und peinlichen Plattitüden, auch zu unheimlichen Konsequenzen und unbewussten Wiederholungen führen kann.

So verteidigte die Nobelpreisträgerin Herta Müller vergangenen Sommer in der FAZ das militärische Vorgehen Israels und zog dabei einen Vergleich zwischen den Palästinensern und den Nazis. Sie argumentierte weiter, dass unsere Gefühle durch die aus Gaza »gesteuerten« Bilder (denen man ohnehin nicht trauen solle) »orchestriert« worden wären; solche Bilder seien die »stärkste Waffe gegen Israel« im Arsenal der Hamas.

Jedoch weist ihre Argumentation, die eine inzwischen von Amnesty International, Human Rights Watch und Ärzte ohne Grenzen als Genozid eingestufte Kriegsführung als »unvermeidlich« rechtfertigt, selbst auffälligen Parallelen zu nationalsozialistischer Propaganda auf. So warnte etwa Joseph Goebbels 1941, dass die Juden in Berlin ihre »Mitleidsgarde« wie »putzige kleine Babys« vorschicken würden, um den »gutmütigen deutschen Michel« auszutricksen, »der immer gerne bereit ist, für eine sentimentale Träne alles ihm angetane Unrecht zu vergessen«. Auch Politiker wie Volker Beck und Jutta Ditfurth, die auf X Zweifel daran säen, dass Babys in Gaza überhaupt erfrieren konnten, scheinen durch ihre menschenverachtenden Aussagen solche Argumentationsmuster in aktualisierter Form zu reproduzieren. Dieser Wiederholungszwang wird auch bei deutschen Bekämpfern des Antisemitismus unüberschaubar, die zunehmend auf antisemitische Bilder zurückgreifen und die (stark jüdisch geprägte) Pro-Palästina-Bewegung als fremdgesteuert, allmächtig und verschwörerisch charakterisieren.

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Aber nicht nur die Rechtfertigung von Kriegsverbrechen in Palästina lässt Zweifel daran zu, dass das institutionelle Gedenken an Nazi-Gräueltaten das geeignete Mittel im Kampf gegen das heutige Unrecht ist. Trotz schulischer KZ-Besuche wird vermutlich ein Fünftel der deutschen Wählerschaft seine Stimme der rechtsextremen AfD geben. Ein Drittel wird sein Kreuz bei der Merz-CDU machen, das sich von ihr im Wahlkampf kaum unterscheidet. Nein, gegen Juden hetzen die beiden Parteien nicht – die Geschichte wiederholt sich ja nicht identisch. Ausbürgerungen und Staatsgewalt werden heute gegen andere Minderheiten gerichtet – vor allem solche, die »unsere« Erinnerungspolitik nicht wertschätzen und gegen Israel demonstrieren.

Wie der sogenannte zweite Historikerstreit zeigt, bleibt ein solches nationalistische Hijacking von Erinnerung nicht unwidersprochen. Bei dieser Debatte, die seit 2020 in deutschen und internationalen Zeitungen tobt, richtete sich die Kritik jedoch nicht an die Erinnerung an sich, sondern forderte sogar mehr davon. Demnach sollte sich das offizielle Gedenken auch auf die Verbrechen des deutschen Kolonialismus ausweiten und die Verbindungen zwischen Gewaltverbrechen innerhalb und außerhalb Europas aufzeigen. Bei solchen empathischen Appellen für eine pluralistische Erinnerungskultur bleibt jedoch die Frage, ob die Vergangenheit uns im Kampf für eine bessere Gesellschaft im Hier und Jetzt wirklich helfen kann. Ergibt es überhaupt Sinn, längst zurückliegende Verbrechen des Kolonialismus offiziell zu gedenken, während koloniale Ausbeutung und rassistische Gewalt immer noch Teil des deutschen Staatshandelns sind? Das Beispiel der aus Nigeria geraubten Benin-Bronzen, die mit großem Tamtam zurückgegeben wurden, während am gleichen Tag eine Sammelabschiebung von Deutschland nach Lagos stattfand, verdeutlicht dieses Dilemma.

Übrigens gibt es in der Medizin derzeit einen Perspektivwechsel. Vergessen wird dort nicht mehr nur als Defekt im Erinerungsmechanismus betrachtet, sondern als lebenswichtiges Verfahren verstanden, das uns vor Traumas schützt und wichtige Informationen priorisieren lässt. Stellt euch vor, was für ein schreckliches Leben wir führten, würden wir jede Ungerechtigkeit, schmerzliche Trennung und Streitigkeiten lebenslang im Gehirn speichern? Was für unerträgliche Menschen zu anderen und zu uns selbst wir wären.

Was individuell stimmt, kann nicht gesellschaftlich völlig verkehrt sein. Linke, die sich einst als Vorreiter des Fortschritts und der Zukunft sahen, haben in letzter Zeit zu oft die Aufarbeitung historischer Schuld zur obersten moralischen Pflicht erhoben und sich in der Rolle der Mahnenden bequem gemacht – ein Wandel, der tiefgreifende Fragen nach Prioritäten aufwirft. Angesichts der täglichen Massenverbrechen in der Welt, des bereits ausgelösten Klimakollapses und des rechten Vormarschs scheint das Festhalten am vergangenen Unrecht kein Kompass oder Anker zu sein, sondern kann genauso verblenden und blockieren.

Wie Yehuda Elkana schon vor Jahren warnte, sei »die bloße Existenz der Demokratie gefährdet, wenn das Gedächtnis an die Toten aktiv am demokratischen Prozess teilnimmt«. 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, in einer Welt, in der das Gedenken daran von Politiker der Grünen bis Putin und Netanjahu als Freikarte für weitere Verbrechen instrumentalisiert wird, sollten wir unsere Beziehung zur Vergangenheit neu denken, die Toten allmählich ihre Toten begraben lassen und damit Platz für eine bessere neue Welt schaffen.

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