TikTok-Ban in den USA: Bis die süchtigen User weinen

Für Nadia Shehadeh ist die Videoplattform wie eine Tüte Chips, die nie leer wird

Die chinesische Social-Media-App Tiktok war am Wochenende in den USA für einige Zeit nicht erreichbar.
Die chinesische Social-Media-App Tiktok war am Wochenende in den USA für einige Zeit nicht erreichbar.

Am Sonntag war für 170 Millionen TikTok-Nutzer*innen für Stunden die beliebteste App der Welt in den USA für einige Stunden abgestellt. Der Grund: Ein US-Gesetz schreibt vor, dass der in China ansässige TikTok-Eigentümer Bytedance sich von der Plattform trennen muss. Das passierte aber nicht. Alle, die ihr Userkonto irgendwann in den USA erstellt hatten, waren also ausgesperrt, etwa 170 Millionen Menschen insgesamt »betroffen«. Sieben Millionen davon nutzten TikTok, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Vor der angekündigten Sperre wurde viel geweint, zurückgeblickt und sich verabschiedet. In einer protestartigen Welle wurde sich bei »RedNote« registriert, einer der chinesischen TikTok-Varianten. Die Verzweiflung ging so weit, dass einige dachten, es wäre gut für die neue App, auch eine neue Sprache zu lernen: Bei dem digitalen Sprachlernanbieter Duolingo schossen die Registrierungen für »Mandarin« um über 200 Prozent in die Höhe.

Dabei hatte sich schon angekündigt, dass die Sperre nicht von Dauer sein würde: TikTok-CEO Shou Zi Chew deutete an, dass US-Präsident Donald Trump sich höchstpersönlich dafür einsetzen würde, dass die Plattform in den USA weiter genutzt werden kann. Außerdem gab es verdächtige Aktionen beim Internetkonzern Meta Platforms: Auf Facebook erhielten Nutzer*innen den Vorschlag, ihr Konto mit TikTok zu verknüpfen. Dann, am Sonntagabend, nach ein paar Stunden Funktionslosigkeit, ließ sich die App auch von den zuvor ausgesperrten Nutzer*innen in Übersee wieder nutzen.

Nun brodelt die Gerüchteküche. Hat Meta TikTok ganz oder anteilig gekauft? Wurde der Algorithmus für die US-amerikanischen Nutzer*innen verändert? War die stundenweise Sperrung von TikTok nur eine populistische Aktion, um Trump gut dastehen zu lassen?

Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß, ist: Die erfolgreichste App der Welt hat mich seit zwei Jahren fest im Griff. Ich liebe TikTok, ich vernachlässige dafür alle anderen Plattformen, und manche davon nutze ich gar nicht mehr. Facebook öffne ich nur noch gelegentlich, bei Instagram verbringe ich wahrscheinlich maximal 20 Minuten am Tag, und X ist nur noch für die tägliche Dosis Doom-Scrolling nutzbar. Aber alles andere – Spaß, Unterhaltung, Rezepte, Lifehacks, Infos, Tipps und die Verbindung mit Leuten, die ähnliche Interessen wie ich haben (also genau das, was ich in den Sozialen Medien immer gesucht habe), – hole ich mir jetzt bei TikTok.

Nadia Shehadeh
Bielefeld

Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie war lange Kolumnistin des »Missy Magazine« und ist außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Zuletzt hat Shehadeh bei Ullstein das Buch »Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen« veröffentlicht. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Pop-Richtfest«.

Dabei hatte ich bis 2021 immer versichert, dass ich mir so einen »Scheiss« wie TikTok niemals runterladen werde. Und jetzt? Jetzt bin ich eine der Personen, die Mark Zuckerberg vielleicht auch gerne in seine schlechtgemachten Netzwerke zurückholen möchte.

Ein TikTok-Verbot in Deutschland hätte mich jedenfalls kalt erwischt. Ich konnte viele der US-amerikanischen Nutzer*innen verstehen, die drohten, lieber mehr Bücher zu lesen, anstatt (wieder) Meta-Produkte wie Instagram oder Facebook oder Elon Musks X zu nutzen. Wenn man nämlich einmal in der TikTok-Welt war, kann man kaum noch zurück.

Dabei ist es nicht die Plattform an sich, die so einzigartig ist. Ich glaube sogar, eine Videoplattform wie TikTok ließe sich relativ einfach nachbauen. Nein, das wirklich fesselnde ist der Algorithmus – der geradezu gruselig gut ist. Bei TikTok ist die »For You«-Page wirklich: for you. Der Algorithmus weiß, was der individuelle Nutzer möchte – manchmal noch, bevor man es selber weiß. Und wenn man, so wie ich, auf der Suche nach inspirierendem, aufheiterndem, musik- und filmlastigen Content ist, dann ist TikTok im Moment der einzige Ort im Internet, der wie für mich gemacht ist. Leider.

Bei Instagram und Facebook sehe ich die Postings von Freund*innen und Bekannten. Und an schlechten Tagen posten alle dasselbe, weil Facebook und Instagram immer noch bubbleartig funktionieren. Mein Social-Media-Erlebnis wird dort also auf der Grundlage von Konten gestaltet, denen ich folge. Das ist mal schön, mal öder und manchmal auch sinnfrei. TikTok aber bringt Inhalte zu mir, die ich gerne konsumiere – meistens von Nutzer*innen, die ich gar nicht kenne.

Als ich vor über zehn Jahren aufgrund von Facebook-Überdrüssigkeit ein Instagram-Konto eröffnete, sagte ich manchmal aus Spaß: »Bei Facebook werden Freunde Feinde, und bei Instagram werden Fremde Freunde.« So ähnlich geht es mir heute mit TikTok – bloß, dass mir potentielle neue Freund*innen aus der ganzen Welt eingeblendet werden.

Darüber hinaus kann man sich von einer schier unendlichen Fülle von Clips einlullen lassen – und genau das ist das Perfide an TikTok. Es macht regelrecht süchtig. Und: Es kann einen auch zu wirklich üblen Content führen, der – wenn man nicht medienkompetent ist – natürlich einiges mit einem veranstalten kann. Denn natürlich bekommt man nicht wirklich alles, was man will. Man bekommt gerade so viel, dass man hängenbleibt – je länger, desto besser. Es ist, als wenn man eine Tüte Chips isst: Man kann eigentlich erst aufhören, wenn die Tüte leer ist. Und die TikTok-Tüte wird niemals leer: Der Strom an Content ist scheinbar endlos.

Die Form der vom Algorithmus kuratierten Kurzvideos liefern genau die Art von Mikro-Entertainment, die einen jederzeit abholen kann: Ganz egal wie müde, unkonzentriert oder gelangweilt man gerade ist. Und nicht nur Geronto-Fälle wie ich lassen sich davon einfangen – gerade für das jüngere Publikum sind die Kurzclips eine Goldgrube. Das erklärt, warum vor allem Teenager und junge Erwachsene den Meta-Produkten den Rücken kehren und sich in der ehemaligen Tanz-App vergnügen.

Wenn es um Social Media geht, gehen die Leute dahin, wo es »social« ist. Facebook aber wirkt seit Jahren wie ein heruntergekommenes Grafik-Experiment, bei dem außer Ausrstern in der Kommentarspalte und etwas lustiger Content nicht mehr viel passiert. Instagram-Content findet mehr und mehr in den Stories statt und ist immer noch sehr poliert – ein Netzwerk, bei denen vor allem die profitieren, die gestalterische Fähigkeiten haben (oder gut aussehen, oder beides).

Bei TikTok kann aber im wahrsten Sinne des Wortes von jedem Normalo jeder Scheiß hochgeladen werden – auch, weil die Nutzung der App sehr niedrigschwellig ist. Das sorgt für die Massen an Content und aktiven Nutzer*innen – und für Content für jede Nische, egal wie merkwürdig sie erscheinen mag. Das macht es für mich noch schwieriger, weil ich generell sehr anfällig für ominöse Nischen bin. Zuletzt begeisterte mich auf TikTok beispielsweise eine ältere Dame aus den USA, die als »Pfirsichglas-Lady« viral ging. Sie versuchte, mit der Hand einen eingelegten Pfirsich aus einem riesengroßen Glas herauszufischen – was natürlich nicht gelang und unfreiwillig urkomisch war.

So ein Quatsch ist natürlich überflüssig – und genau mein Humor. Deswegen würde ich wahrscheinlich als erste davon profitieren, wenn der TikTok-Algorithmus langfristig von einem europäischen oder US-amerikanischen Unternehmen versaut würde – damit ich nicht mehr so lange auf den Clips hängenbleibe. Am besten wäre für mich, Elon Musk würde sich einklinken, damit ich freiwillig mein Profil still lege, weil mir dann den ganzen Tag – genau wie bei X – nur sein eigenes Geschwafel und Krypro-Bro-Schwachsinn eingeblendet wird. Und vielleicht passiert das auch. Aber so lange werde ich auf jeden Fall noch eins tun: Mir weiter das Gehirn frittieren – mit lustigen Tier-Videos, skurrilen Videomachern und Rezepten.

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