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Verleugnet und vergessen: »Asoziale« und »Berufsverbrecher« im NS
Im Nationalsozialismus wurden Menschen als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« verfolgt. Eine Ausstellung erinnert – mit Blick auf heute
Ist das das Ende der Verleugnung?«, steht auf einer Tafel. Sie verweist auf den 13. Februar 2020. Erst seitdem werden in der Bundesrepublik Menschen, die als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« verfolgt wurden, offiziell als Opfer der Nationalsozialisten anerkannt. Zwischen 1933 und 1945 greifen Behörden und Polizei gesellschaftliche Vorurteile auf. Sie kontrollieren, drangsalieren und berauben Zehntausende ihrer Freiheit. In Konzentrationslagern markieren die Nazis sie mit einem grünen und einem schwarzen Dreieck. Die Tafel, die nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Verfolgten seit 2020 fragt, steht in Berlin, in der Ausstellung »Die Verleugneten«, die sich erstmals mit ihren Schicksalen befasst.
Der Bundestagsbeschluss von 2020 spricht Überlebenden einen leichteren Zugang zu finanzieller Entschädigung zu. Er sieht außerdem vor, dass jene Opfergruppe stärker in das öffentliche Bewusstsein rückt. Diesem Auftrag hat sich die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas angenommen und mit Geldern der Bundesregierung für Kultur eine Wanderausstellung konzipiert.
Statt der Nazi-Begriffe würden sie den Begriff »die Verleugneten« verwenden, erklären die Historiker Ulrich Baumann und Oliver Gaida im Gespräch mit »nd«. Er beschreibe die diversen Biografien am besten. »Es handelt sich nicht um eine soziale Gruppe«, betonen sie. In ihrer Ausstellung gehen sie biografisch vor. »Im Kern steht das Leben von 16 Menschen«, sagt Baumann. Sie erzählen von einem Künstler, der in Kneipen Zeichnungen anfertigt, von diversen Emanzipationsgeschichten von Menschen, die ein unangepasstes Vagabunden-Leben führen oder eine Transition durchschreiten.
Auch der Berliner Manfred Bastubbe (1910–1976), der »Gentleman-Einbrecher« mit dem Hang zur Inszenierung, ist einer von ihnen. Er bricht in Berliner Reichenvillen ein und kommt mehrmals in Haft. Nach seiner Entlassung 1936 gerät er aufgrund seiner Vorstrafen ins Visier der Nazis und kommt als »Berufsverbrecher« ins Konzentrationslager.
Ein zentrales Instrument für die Verfolgung der Verleugneten ist die sogenannte Vorbeugungshaft. Ab 1933 gilt sie nur für Vorbestrafte, ab 1937 wird sie ausgeweitet auf Personen mit »asozialem Verhalten«. Mit der Vorbeugungshaft können die Nazis ohne Gerichtsurteil Menschen festnehmen und direkt ins Konzentrationslager deportieren lassen. Eine Station in der Ausstellung erklärt beispielhaft am Leben von Rudi Zerbst, wie der Prozess amtlich ablief. Bis auf die Gestapo existieren noch heute alle Institutionen, die an der Stigmatisierung, Verfolgung und Ermordung der Verleugneten beteiligt waren. Sie heißen Arbeitsamt, Jugendamt, Gericht oder Kriminalpolizei.
Rudi Zerbst (sein Leben haben die Historiker im Staatsarchiv Leipzip recherchiert) ist keine Straftat nachzuweisen. Dennoch stellt das Fürsorgeamt (Wohlfahrtsamt) bei der Kriminalpolizei einen Antrag auf Vorbeugungshaft. Das Amt wollte sich der Sozialhilfezahlung für den aus einem Armutsviertel stammenden Zeichner entledigen, erklären die Historiker. »Wegen Arbeitsscheu und asozialem Lebenswandel in polizeiliche Vorbeugungshaft« steht in dem Antrag geschrieben, den Besucher*innen der Ausstellung lesen können.
Zerbsts Akte stehe für zehntausende andere Beispiele. Laut Kriminalpolizei stelle er eine »Gefahr für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft« dar, wie sich in einer anderen Akte lesen lässt. Wer zur »Volksgemeinschaft« gehört und wer nicht, bestimmen die Nazis anhand rassistischer und sozialdarwinistischer Ideologie. Neben »Volksgemeinschaft« sind es auch Worte wie »Bettlerin«, »wechselnde Bekanntschaften«, »asoziale Familie« oder »kriminelle Veranlagung«, die sich in den Amtsakten zu den Verleugneten finden.
Zwei Bewegungen habe es laut Baumann in der Verfolgungsgeschichte der Verleugneten gegeben: rein in das KZ und raus aus dem KZ. Soll heißen, dass Gefangene aus dem Knast in Konzentrationslager gebracht wurden, genauso wie KZ-Insassen in Euthanasie-Tötungsanstalten. Man soll Kriminelle nicht konservieren, habe Hitler mehrfach gesagt, erzählt Baumann.
Weder schwarz noch weiß sei das Leben der Verleugneten, mit denen sich die Historiker in den vergangenen Jahren befassten. Genauso wenig eindimensional war die Aufarbeitung ihrer Geschichten, sagen die Historiker. Viele der Menschen werden aus unterschiedlichen Gründen verfolgt, auch als Juden, als Roma oder als Homosexuelle. Wer das KZ überlebt, wird nicht nur bis 1945 verleugnet. Abgesehen von der ausbleibenden Anerkennung als Opfer und der fehlenden Entschädigung werden die Betroffenen innerhalb der NS-Opfergruppen diskriminiert. Viele schämen sich innerhalb ihrer Familien.
Ilse Heinrich ist eine der wenigen Zeitzeug*innen, die öffentlich sprach. Auf Videoaufnahmen kann man ihr in der Ausstellung lauschen. »Ich war schon auf dem Totenbett«, erzählt sie über die letzten Wochen vor der Befreiung des KZ Ravensbrück. Zu sprechen beginnt sie erst in den 80ern. Der Berliner »Gentleman-Verbrecher« Bastubbe, der nach 1945 weitere Einbrüche beging, wurde sowohl vom »Tagesspiegel« als auch vom »Neuen Deutschland« in Zeitungsartikeln weiterhin »Berufsverbrecher« genannt. Andreas Zerbst kämpfte hingegen dafür, dass »Berufsverbrecher« auf seinen Stolperstein geschrieben wurde.
»Die Ereignisse haben die Familie gesprengt.«
Andreas Zerbst NS-Verfolgter
Ein Nein auf die Frage, ob die Verleugnung mit dem Bundestagsbeschluss von 2020 endet, formuliert die Ausstellung an keiner Stelle. Stattdessen widmet sie sich den Kontinuitäten in der heutigen Gesellschaft. »Vor dem Gesetz sind alle gleich – dieser Grundsatz wird für viele nicht eingelöst«, steht auf einer Tafel geschrieben. Dort lassen sich Videos zu verschiedenen Themen wie »Armut vor Gericht«, »Leben auf der Straße« oder »Justizvollzugsanstalt« anschauen.
In den Videos aus den sozialen Netzwerken erklären Aktivist*innen vom »Freiheitsfonds«, wie arme Menschen in Berlin im Gefängnis landen, weil sie die Strafe fürs Schwarzfahren nicht zahlen können. Ein Obdachloser erzählt, wie ihn das Prinzip »Housing First« aus der Suchtkrankheit und Kriminalität rettete. Der Journalist und Jurist Ronen Steinke spricht über »Justiz-Euphemismen« und darüber, dass es in Deutschland immer noch Zwangsarbeit gibt – nämlich im Gefängnis.
Eine Gratwanderung sei es gewesen, den Ausstellungsraum für die gegenwärtige Auseinandersetzung zu gestalten, erzählen die Historiker. Baumann sagt, dass es dem Präsidenten der Diakonie sogar zu wenig Bezug zur Gegenwart sei. Kritik habe es auch gegeben, weil doch fast alle 16 Biografien Menschen zeigen, die tätig waren: als Händler, als Zeichner oder Korbflechter. »Da ist die Frage, mit welchem Arbeitsbegriff man historisch umgeht«, sagt Baumann. Einen Menschen zu finden, der sein ganzes Leben »gar nix tut«, sei dann doch schwer.
Die Ausstellung ist nur noch bis zum 31. Januar geöffnet. Für das erste Februarwochenende würde man bei Bedarf Gruppenführungen organisieren. Ab März wandert die Ausstellung in die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, nach Köln und in einem Jahr ist sie in Leipzig zu sehen. Auf der Website »Die Verleugneten« kann man sich außerdem in die 16 Biografien einlesen.
Derzeit arbeiten die Historiker an Konzepten für die Bildungsarbeit mit armen oder wohnungslosen Menschen. Mit Studierenden der Sozialen Arbeit und mit Jugendlichen hätten schon Workshops stattgefunden. Auch mit Polizist*innen – das Interesse aus Polizei und Justiz sei jedoch »verhalten«, wie die Historiker bemerken.
Die Verleugneten. B. Place, Cora-Berliner-Straße 2, 10117 Berlin. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr. Die Ausstellung läuft bis einschließlich 31. Januar, der Eintritt ist frei
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