Covid-19: »Es bleibt ein Restrisiko«

Der Virologe Martin Stürmer blickt kritisch auf die Corona-Jahre zurück

  • Interview: Angela Stoll
  • Lesedauer: 6 Min.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach lässt sich im Herbst 2024 öffentlichkeitswirksam gegen Influenza und Covid-19 impfen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach lässt sich im Herbst 2024 öffentlichkeitswirksam gegen Influenza und Covid-19 impfen.

Vor fünf Jahren versetzten Meldungen von ersten Corona-Toten die Welt in Schrecken, heute gehört das Virus zu unserem Alltag. Ist Covid-19 nur noch eine Art Erkältung?

Jein. Als das Virus erstmals aufkam, war die Weltbevölkerung ungeschützt. Da wir den Erreger in dieser Form noch nie gesehen hatten, hatten wir keine adäquate Immunantwort. Deshalb konnte er so viele Todesfälle verursachen. Danach gab es zig Wellen mit verschiedenen Varianten. Seit Omikron zirkuliert, haben wir eine breite Immunität in der Bevölkerung, natürlich auch unterstützt und beschleunigt durch die vielen Impfungen. Daher geht es tatsächlich eher in Richtung Erkältung. Aber wie bei Grippe besteht für Risikogruppen ein höheres Risiko, schwer zu erkranken, also für ältere Menschen und Menschen mit einer Grunderkrankung. Diese Bevölkerungsgruppen müssen nach wie vor möglichst optimal geschützt werden, sei es durch jährliche Folgeimpfungen oder durch Rücksichtnahme in der Bevölkerung. Außerdem gibt es weiterhin Menschen, die an Long Covid neu erkranken. Es bleibt also ein Restrisiko.

Zeichnet sich ab, was vor Long Covid schützen könnte?

Es gibt Indikatoren, die zeigen: Wer sich regelmäßig impft, erkrankt seltener an Long Covid, vor allem am Chronischen Müdigkeitssyndrom. Dazu wird es sicher in den nächsten Monaten und Jahren mehr Daten geben.

Interview

Martin Stürmer, Jahrgang 1968, ist promo­vierter Bio­chemiker und leitet das IMD-Labor in Frankfurt am Main. Zudem ist er Privat­dozent und unterrichtet im Fachbereich Medizin das Fach Medizinische Virologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Er studierte Biochemie an der FU Berlin und arbeitete bis 2017 in der medizinischen Virologie der Uniklinik Frankfurt. Unter anderem war er an der Entdeckung und Bekämpfung des Erregers Sars-Cov-1 beteiligt, der für die Sars-Pandemie 2002 und 2003 verantwortlich war. Zu seinen Forschungs­schwerpunkten gehören außerdem HI- und Hepatitis-Viren. ast

Könnte das Virus noch mal richtig gefährlich werden?

Da spricht vieles dagegen. In den ersten Jahren hatten wir sehr viele signifikant unterschiedliche und häufig wechselnde Varianten. Alpha und Delta gab es jeweils nur etwa ein knappes halbes Jahr, seit 2021 ist Omikron im Umlauf. Vieles deutet darauf hin, dass die evolutionäre Entwicklung an diesem Punkt stehen bleibt und es nur noch durch kleine Variationen zu Anpassungen kommt. Die werden uns nicht wirklich umhauen, weil die Immunität der Bevölkerung entsprechend gut ist. Aber zu 100 Prozent können wir es natürlich nicht ausschließen.

Aber es könnte eine andere Pandemie geben.

Ja. Ich bin jetzt 56 und habe noch ein paar Jahre zu arbeiten. Ich würde fast behaupten, dass ich in meiner aktiven Dienstzeit noch eine sehen werde.

Was sollte dann besser laufen?

Jede Pandemie ist anders. Es geht um andere Erreger, deshalb kann man die Dinge nicht eins zu eins vergleichen. Klar ist aber, dass die Kommunikation sehr viel besser laufen muss. Das wird erleichtert, wenn wir in so einer Situation Gesundheit nicht föderalistisch, sondern bundesweit einheitlich managen. Außerdem wäre eine adäquate Vorratshaltung, zum Beispiel von Masken, sinnvoll.

Noch ein Punkt: Als die Pandemie anfing, waren alle politischen Entscheidungen durch die Empfehlungen von Virologen gesteuert. Das ist erst mal auch nicht verkehrt. In Zukunft müsste man aber früher andere Fachrichtungen mit einbinden. Zum Beispiel haben wir gesehen, dass längere Lockdowns zwei Seiten haben: Man kann dadurch viele Infektionen vermeiden und relativ schnell aus der Pandemie herauskommen. Aber was bedeuten sie für unser Wirtschafts-, Gesellschafts- und unser Sozialleben? Diese Tragweite war uns so nicht bewusst, was in den ersten Stunden und Tagen der Pandemie auch nicht so notwendig war. Da ging es wirklich darum, Leben zu retten.

Vor allem Kinder und Jugendliche waren Leidtragende der Coronakrise und ihrer Folgen. Was hätte man anders machen können?

Das ist schwierig. Es war relativ schnell klar, dass Kinder anders als bei vielen anderen Erkrankungen nicht unbedingt die Virenschleudern sind. Trotzdem konnten sie sich anstecken und auch andere Menschen infizieren. Insofern war es anfangs schon richtig, Kindergärten und Schulen zuzumachen. Mit dem Wissen, das wir jetzt haben, hätte man früher wieder mehr erlauben können und vielleicht auch müssen. Deswegen brauchen wir im Pandemiefall auch aus diesem Bereich mehr Experten. Man müsste ausloten: Wie bekommen wir es hin, dass Kinder und ihre Umgebung geschützt werden, ohne massive psychologische Nachteile zu haben? Da kann man nur eine Lösung finden, wenn sich zeitnah ein größerer Kreis von Experten austauscht. Wichtig ist, dass sich alle in diesem Gremium im Klaren sein müssen, dass es ohne Kompromissbereitschaft nicht geht. Man braucht Menschen, die flexibel sind und über ihren Tellerrand hinausschauen können.

Stichpunkt Impfung, ein Reizthema, das die Gesellschaft gespalten hat. Der ehemalige Kanzleramtschef Helge Braun sagte im vergangenen Frühjahr, man habe die Effekte der Impfung überschätzt. Stimmen Sie zu?

Absolut nicht. Die Impfung hat uns deutlich schneller aus der Pandemie herausgeführt, als wir es sonst geschafft hätten. Ohne sie wären viel mehr Menschen gestorben, es wären mehr in Krankenhäuser gekommen und das Gesundheitssystem wäre viel stärker überlastet gewesen. Was aber Überschätzung seitens der Politik war: Wir hatten anfangs mit den ersten Impfstoffen und den frühen Virusvarianten Hinweise darauf, dass nicht nur das Risiko für schwere Verläufe reduziert wird, sondern auch die Übertragungswahrscheinlichkeit signifikant sinkt. Das hat sich aber mit Auftauchen der Omikron-Variante erübrigt. Damit war klar: Wir können mit der Impfung nur noch das Risiko für schwere Verläufe reduzieren. Dadurch waren alle Strategien hinfällig, die bis dahin auf den Tisch gebracht worden waren, also die Impfpflicht für Mitarbeiter im Gesundheitswesen und die 2G- und 3G-Regeln, die Geimpften einen Sonderstatus zubilligten, mit dem sie wieder an Veranstaltungen teilnehmen konnten. Das ist damals zu spät korrigiert worden, weil man sich in diese Dinge verrannt hatte.

Anfang 2021 war die Impfung ein Renner, heute ist sie ein Ladenhüter. Warum?

Das frage ich mich auch. Grundsätzlich ist es extrem schwierig, Menschen davon zu überzeugen, etwas präventiv zu unternehmen. Hinzu kommt die Diskussion um die Impfung. Ihre Ächtung als Spalter der Gesellschaft hat sicher zu einer noch größeren Skepsis geführt. Dass die Impfung von der Politik, wie gerade geschildert, gepusht wurde, war auch Anlass zu Verschwörungsmythen. Das Vertrauen in die etablierten politischen Systeme hat sehr gelitten. Das führt auch dazu, dass Aussagen von Politikern und Wissenschaftlern stärker misstraut wird.

Eine Weile waren Masken Pflicht, heute wird man eher schief angeschaut, wenn man eine trägt. Warum haben sich Masken im Alltag doch so wenig durchgesetzt?

Viele Leute sind wieder in ihre alten Verhaltensmuster zurückgefallen. Aber es gibt in Deutschland sicher deutlich mehr Menschen, die Maske tragen. Das sollte man respektieren und sich selber kritisch hinterfragen: Könnte ich das nicht auch tun? Wir sollten in diesen fast fünf Jahren Pandemie gelernt haben, dass das hilfreich ist. Richtig getragen, schützen Masken extrem effektiv vor Ansteckungen.

Sie waren zu Zeiten der Pandemie ein viel zitierter Experte. Haben Sie Anfeindungen erlebt?

Klar. Ich bin in sozialen Medien massiv angegriffen und beleidigt worden. Körperlich wurde ich zum Glück nicht attackiert, aber man hat uns einmal den Zaun und einmal mein Auto beschmiert. Das waren Sachbeschädigungen.

Würden Sie sich trotzdem wieder öffentlich äußern, wenn es eine neue Pandemie gäbe?

Ja, wenn es meiner Expertise entspräche, sich also um eine Atemwegserkrankung handeln würde. Ich finde es ganz wichtig, dass die Wissenschaft ihre Deutungshoheit nicht Querdenkern oder irgendwelchen Spinnern und Verschwörungsfanatikern überlässt.

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