- Berlin
- Tierversuche
Berlin: Krebspatienten gegen Versuchstiere
Wissenschaftler beklagen Forschungs-Verzögerungen durch Tierschutzklagen
Glaubt man Jens Hoffmann, ist seine Forschung aktuell in Berlin kaum möglich. Der Pharmakologe leitet eine Forschungsabteilung der Deutschen Krebsgesellschaft. »Ich wünsche mir, dass das abgeschafft wird, damit man vernünftig arbeiten kann«, sagt er frustriert am Montag vor dem Wissenschaftsausschuss des Abgeordnetenhauses – und meint damit das Verbandsklagerecht von Tierschutzorganisationen bei Genehmigungsverfahren zu Tierversuchen. Seit 2021 haben insgesamt sechs anerkannte Tierschutzorganisationen die Möglichkeit, Stellung zu beantragten Tierschutzversuchen zu beziehen und bei Streitfällen eine gerichtliche Klärung anzustreben.
»Wir stehen vor einer unendlichen Bürokratie, die keinerlei Verbesserung für den Tierschutz bringt«, sagt Hoffmann jetzt. Von den vier Anträgen auf Tierversuche, die er seit 2021 beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) gestellt hat, seien einer abgelehnt worden und drei noch immer in der Bearbeitung. »Auf den Bescheid zu einem Antrag warten wir seit zwei Jahren«, sagt er. Die Behörde sei gelähmt, weil das Verbandsklagerecht sie vor eine »enorme Rechtsunsicherheit« stelle. Aus Angst vor Klagen stellten die Lageso-Mitarbeiter vermehrt Nachfragen und Prozesse verzögerten sich. Dabei seien Tierversuche bei den europäischen und US-amerikanischen Genehmigungsbehörden für neue Medikamente zwingend vorgeschrieben.
Michael Gotthardt vom Max-Dellbrück-Centrum für Molekulare Medizin hält die Versuche am Tier – in der onkologischen Forschung sind es fast ausschließlich Mäuse – auch aus medizinischer Sicht für unverzichtbar. »Ich finde es wichtig, Alternativmethoden zu entwickeln«, sagt er. Im Rahmen sogenannter 3R-Forschung (»Replace, Reduce, Refine«) wurden alternative Versuchsanordnungen gefunden, die Tierversuche ersetzen sollen. Beispielsweise Organoide: Künstlich gezüchtete Zellkulturen, die die Funktionsweise menschlicher Organe imitieren und mit denen tierleidsfrei experimentiert werden kann. »Man muss aber die Grenzen solcher Methoden erkennen«, sagt Gotthardt.
»Es ist schwierig, Multimorbidität in einem Modell abzubilden«, sagt Gotthardt. Das Zusammenwirken verschiedener Krankheiten und Nebenwirkungen von Medikamenten seien also bei tierfreien Versuchen nur schwer analysierbar. »Versuche an Organoiden können nichts darüber aussagen, ob man von einem Medikament Depressionen bekommt«, so Gotthardt. Tierversuche blieben deswegen weiter notwendig. Dass es so schwierig sei, sie in Berlin genehmigt zu bekommen sei ein Standortnachteil und gerade für Nachwuchsforscher ärgerlich.
Die Tierschutzverbände fühlen sich zu Unrecht attackiert. »Das Verbandsklagerecht hat keine nachteiligen Auswirkungen gebracht«, sagt Silvi Paulick von der Albert-Schweitzer-Stiftung. »Es gab keine Klageflut.« Tatsächlich legen das auch Zahlen des Lageso nahe: In 479 Genehmigungsverfahren kam es zu gerade mal 34 Akteneinsichtsgesuchen durch Tierschutzverbände, in drei Fällen wurde Klage eingereicht. Tierschutzorganisationen könnten erst nach Abschluss des Verfahrens Einsicht in Akten nehmen oder Klage erheben. »Es tritt kein Forschungsstopp ein.« Ausschlaggebend für die langen Bearbeitungszeiten sei vielmehr, dass die Forscher häufig unvollständige Anträge einreichen.
»Ich finde es schwierig, die Wirkung des Gesetzes über die Zahl der Gerichtsverfahren zu evaluieren«, sagt dagegen Michael Gotthardt. »Es ist egal, ob es eine Klage gibt oder 50 – sie hängen immer wie ein Damoklesschwert über uns.« Viele der im Verfahren aufkommenden Fragen seien aus medizinischer Sicht zudem unnötig. »Da werden Extrarunden gedreht für Dinge, die ein Wissenschaftler gut beurteilen kann«, so Gotthardt.
Johanna Hößler vom Lageso hält die Verbandsklagerechte für zweitrangig in der Frage, warum sich die Verfahren ziehen. »Dass wir vorsichtig sind, das war schon immer so«, sagt sie. »Das ist unabhängig vom Verbandsklagerecht.« Im Genehmigungsverfahren müssten verschiedene Interessen abgewogen werden. »Natürlich macht es Druck, wenn man weiß, dass die Entscheidung hinterfragt wird«, sagt sie. Aber auch ohne die Tierschutzverbände würde es im Verfahren zu Nachfragen kommen. An einer Stelle verlängere die Mitwirkung der Tierschutzverbände die Bearbeitungszeit allerdings tatsächlich: Um Transparenz für die Tierschutzorganisationen herzustellen, müssten nun zahlreiche Details in die Akten aufgenommen werden. »Wir fordern mehr an, als wir es vorher getan hätten, aber das liegt daran, dass wir die Details vorher von Begehungen kannten und jetzt muss alles in die Akte«, sagt Hößler.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.