HTS-Chef wird Präsident

Übergangsregierung in Syrien ernennt Machthaber Ahmad Al-Scharaa zum Interims-Staatschef

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 5 Min.
Im Rawda-Café in Damaskus kommt der Übergangspräsident per Monitor zu den Leuten.
Im Rawda-Café in Damaskus kommt der Übergangspräsident per Monitor zu den Leuten.

Es ging alles sehr schnell am Mittwoch: Zuerst ernannte die syrische Übergangsregierung den Anführer der inzwischen formal aufgelösten islamistischen Miliz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS), Ahmad Al-Scharaa, zum »Präsidenten für die Übergangsphase«. Dann lösten die neuen Machthaber kurzerhand das Parlament auf und krönten den Machtwechsel mit der Aussetzung der Verfassung von 2012. Der Umbau des politischen Systems in Syrien nimmt Fahrt auf, wie lange die Menschen jedoch mit den Übergangslösungen leben müssen ist völlig offen. Für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung hatte Al-Scharaa kürzlich einen Zeitraum von bis zu drei Jahren genannt.

Inmitten der Umbrüche, die sich vor allem in der syrischen Hauptstadt Damaskus vollziehen, lässt die türkische Armee nicht nach, Bomben auf die kurdische Minderheit im Norden des Landes zu werfen. Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) zufolge sind bei einem türkischen Luftangriff in der Kreisstadt Sirrîn bei Kobanê am Dienstag 13 Menschen getötet und 20 weitere verletzt worden, berichtete das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad. Der Angriff habe sich auf einem Marktplatz ereignet. SOHR verurteilte das Massaker und verlangte das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft, um »das türkische Regime für seine wiederholten Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung zur Rechenschaft zu ziehen«, heißt es in einer Pressemitteilung.

Elham Ahmed, die Außenbeauftragte der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (DAANES), erläuterte am Dienstag in einem Pressegespräch, dass sich an der Lage in Nordsyrien nichts geändert habe, seitdem Al-Scharaa und seine Kampfgefährten Baschar Al-Assad gestürzt und die Macht in Damaskus übernommen haben: »Die Türkei lässt uns nicht vorankommen«, sagte Ahmed, versuche hingegen weiterhin, ihre eigenen Interessen in Syrien zu verfolgen und wolle diese auch der neuen Regierung gegenüber durchsetzen, soll heißen: Entwaffnung der kurdischen Milizen, allen voran der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), und eine Pufferzone längs der syrisch-türkischen Grenze.

Die Politik der Türkei sei die immer gleiche: Besetzung von Territorium mit Stillschweigen aus Damaskus. »Der türkische Außenminister Hakan Fidan reist fast täglich nach Damaskus, um darauf zu bestehen, dass Nordsyrien unter türkische Kontrolle gestellt wird«, beschreibt Ahmed die türkische Politik. Für die Selbstverwaltung ist der Handlungsspielraum daher klein. »Wir sind uns alle einig, dass es ein geeintes Syrien geben muss«, fuhr Elham Ahmed fort. Die Gespräche zwischen den neuen Machthabern und der SDF-Führung über eine etwaige Eingliederung der kurdischen Kämpfer in eine aufzubauende reguläre syrische Armee hätten bislang keine Ergebnisse gebracht. Und: Für Elham Ahmed ist das derzeit keine Option, denn die Kurden müssen sich gegen die türkischen Angriffe und deren Milizen wie der SNA verteidigen können.

»Wir sind uns alle einig, dass es ein geeintes Syrien geben muss.«

Elham Ahmed Außenbeauftragte der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien

Unterdessen entsteht in Damaskus in stetigen Schritten der neue syrische Staat. Al-Scharaa sei mit der Bildung eines »gesetzgebenden Übergangsrates« beauftragt worden. Dieser solle bestehen bleiben, bis eine permanente Verfassung beschlossen werde. Die De-facto-Herrscher erklärten auf einer Konferenz in Damaskus, dass sie die Verfassung von 2012 außer Kraft setzen. Das Parlament der alten Regierung wird aufgelöst, ebenso sollen die Streitkräfte neu organisiert werden. Auch mit der alten Regierung verbundene Sicherheitsorgane werden offiziell aufgelöst. Die Baath-Partei des gestürzten Machthabers Assad, die ihre Arbeit in Syrien bereits eingestellt hat, sowie ihr angeschlossene Institutionen dürfen demnach nicht mehr tätig sein.

Die »Armee des nicht mehr bestehenden Regimes« von Assad und dessen Sicherheitsdienste seien ebenfalls aufgelöst worden. Diese Schritte dienten dem »Wiederaufbau der syrischen Armee«. Auch »alle bewaffneten Gruppen, politischen und zivilen Organe, die sich der Revolution zugehörig fühlen, sind aufgelöst und müssen in die staatlichen Institutionen eingegliedert werden«, hieß es.

Zu Wochenbeginn hatten sich die Außenminister der Europäischen Union (EU) darauf geeinigt, einige der Wirtschaftssanktionen aufzuheben. Das bei einem Treffen in Brüssel vereinbarte Vorgehen sieht vor, den neuen Machthabern Anreize zu geben, eine echte Demokratie in Syrien aufzubauen. Dabei besteht auch die Hoffnung, dass Hunderttausende syrische Flüchtlinge in der EU eines Tages in ihre Heimat zurückkehren können.

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas sagte nach dem Treffen, die Lockerungen sollten den Wiederaufbau erleichtern und Syrien helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Zugleich betonte sie, der Plan beinhalte auch, Lockerungen wieder rückgängig zu machen, wenn die neuen Machthaber Schritte einleiten, die aus EU-Sicht in die falsche Richtung gehen. Mit Agenturen

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