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Ukraine-Krieg: Hoffen auf den Waffenstillstand

In Odessa sprechen sich immer mehr Menschen für Verhandlungen aus, um den Krieg zu beenden

  • Bernhard Clasen
  • Lesedauer: 5 Min.
Wegen Kritik an der Regierung saß der Gewerkschaftsaktivist Andrej Ischtschenko mehrere Monate in Untersuchungshaft.
Wegen Kritik an der Regierung saß der Gewerkschaftsaktivist Andrej Ischtschenko mehrere Monate in Untersuchungshaft.

Odessa ist wohl die einzige Stadt in der Ukraine, in der die Fahrt mit dem Bus nicht vor Antritt der Fahrt, sondern beim Aussteigen direkt beim Fahrer bezahlt werden muss. Diese Praxis erschwert das Tricksen beim Schwarzfahren. Und tricksen können sie, die Odessiten. Eigenwilligkeit, Sturheit, aber auch trickreiches Handeln und Verhandeln sind Eigenschaften, die ihnen nachgesagt werden.

In Odessa ticken die Uhren anders

Doch das ist nicht das einzige, was in dieser Hafenstadt am Schwarzen Meer auffällt. Es gibt kaum eine ukrainische Stadt, die ein derart reichhaltiges Kulturangebot hat, wie eben Odessa. Die einzige europäische Stadt, in der vorwiegend Russisch gesprochen wird, beschreiben viele die Stadt am Meer. Aber auch das ändert sich langsam. Immer mehr hört man auf den Straßen und Cafés Menschen sich auf Ukrainisch unterhalten.

Auch politisch ticken in der Stadt die Uhren anders. Wohl nirgends in der Ukraine, so der Eindruck nach zehn Tagen Aufenthalt, ist die Zustimmung zu einem sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen mit Russland so groß wie in Odessa.

Trotz Zerstörung keine Gedanken an Rache

»Da sehen Sie mal, wie meine Wohnung aussieht«, sagt die 88-jährige Ljudmilla in einem abseits des Zentrums gelegenen Außenbezirks von Odessa. Wo früher mal eine Decke war, sieht man nur noch einen Bretterverschlag. »Das habe ich einem russischen Luftangriff zu verdanken. Vor ein paar Wochen schlug es ein. Da war das Dach weg. Einfach weg. Aber schlimmer noch – eine Nachbarin hat gesehen, wie ein Nachbarsjunge neben seinem Schulranzen auf dem Boden lag, tot.«

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Gleichwohl: An Rache denkt Ljudmilla nicht. »Wir müssen den Krieg beenden. Mit Verhandlungen und Kompromissbereitschaft«, sagt sie. »Ich kann das einfach nicht mehr länger ertragen: die nächtlichen Sirenen und Einschläge, die Nachricht von jungen Männern aus der Nachbarschaft, die in einem Sarg zurückgekommen sind«, sagt sie und schiebt nach: »Meine Freundinnen sehen das auch so.«

Trump ist die Hoffnung

Ihre Freundin Rita hofft auch auf einen baldigen Waffenstillstand und verbindet diese Hoffnungen vor allem mit einem Mann: Donald Trump. »Nur Trump kann Putin die Stirn bieten, auf ihn Druck ausüben.«

Nicht alle wollen sich von einem Journalisten zitieren lassen. Man hat Angst, Probleme zu bekommen. Einer, der sich nicht scheut, seinen Namen auch in der Zeitung zu sehen, ist der 51-jährige Gewerkschaftsaktivist Andrej Ischtschenko. »Der weitaus größte Teil der Menschen in meinem Umfeld ist inzwischen für direkte Verhandlungen mit Russland.« Hauptsache der Krieg höre irgendwie auf, sei nun die vorherrschende Meinung in seinem Umfeld, so Ischtschenko zu »nd«. Das wichtigste sei der Friede, seien Nächte ohne Luftangriffe und dass die Männer endlich bei ihren Frauen und Familien sein können. Wahrscheinlich sei der Anteil der Menschen im Gebiet Odessa, die so dächten, größer als in anderen Gebieten, schätzt Ischtschenko ein.

Öffentliche Kritik an Regierung kann gefährlich sein

Der Fall Ischtschenko zeigt, wie gefährlich öffentliche Kritik an der Regierung sein kann. Ischtschenko hatte wegen drei regierungskritischen Posts auf Facebook und Telegram von Mitte Oktober 2024 bis zum 21. Januar 2025 in Odessa in Untersuchungshaft gesessen und wurde dann zu drei Jahren Bewährung verurteilt (das Urteil liegt der Redaktion vor). »Steh auf, du großes Land zum tödlichen Kampf mit der dunklen faschistischen Macht und der grünen Horde«, zitiert das Urteil einen Post von Ischtschenko auf Facebook. Da sich der Nachname von Präsident Wolodymyr Selenskyj als »der Grüne« übersetzen lässt, ist klar, wer mit »grüner Horde« gemeint ist.

Jeder Krieg endet mit Verhandlungen

In einem anderen im Gerichtsurteil zitierten Post hatte Ischtschenko geschrieben, dass die Ukraine ohne ihr Dnipro-Wasserkraftwerk, ohne die Industrie im Osten des Landes und die Schwarzmeerhäfen nur Ackerland wäre, »bewohnt von Nationalisten, die ihren vorhistorischen Sumpf bejubeln …«

»Meine Bekannten haben sehr unterschiedliche Positionen«, berichtet der 21-jährige Nikita Rybatschenko gegenüber »nd«. »Aber alle sind sich einig, dass der Schrecken des Krieges ein Ende haben muss, denn die Hauptaufgabe der Außenpolitik ist es, Krieg zu verhindern. Wir sind uns darüber im Klaren, dass dieser Krieg das Leben von vielen jungen Menschen kostet, ihnen ihre Kindheit und ihr Zuhause nimmt. Ich weiß, dass die Menschen um mich herum den Frieden wollen, und ich will ihn auch. Und jeder Krieg endet, wie wir wissen, mit Verhandlungen. Ich denke, dieser Albtraum sollte so schnell wie möglich beendet werden, und keine politische Position ist das Leben von Hunderttausenden von Menschen wert«, führt Rybatschenko seine Gedanken aus.

Keine Aussicht auf einen militärischen Sieg der Ukraine

Unterstützung bekommen die Befürworter von Verhandlungen nun von einer Frau, die zwei Jahre lang eng mit Selenskyj zusammengearbeitet hatte. Julia Mendel, von 2019 bis 2021 Pressesprecherin des Präsidenten, sieht in einem Beitrag für das US-amerikanische »Time Magazine« keine Perspektiven für einen militärischen Sieg. Sie will sich nicht mit der Vorstellung abfinden müssen, dass nur ein fortgesetzter Krieg die Ukraine retten wird.

»Ich fordere unsere Verbündeten, unsere führenden Politiker und vor allem meine ukrainischen Mitbürger auf: Bedenken Sie den Wert eines Waffenstillstands. Lassen Sie uns diesen schwierigen Weg einschlagen, nicht als Kapitulation, sondern als notwendigen Schritt zur Sicherung der Zukunft der Ukraine. Wir sind es unserem Land, den Gefallenen und den Nachkommen der Ukraine, die wir zu schützen versuchen, schuldig.«

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