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Waffenpause in Gaza: Zweite Phase wirft viele Fragen auf
Verhandlungen über die Zukunft des Gazastreifens laufen unter großen Differenzen an
Es ist der Moment, auf den Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu jahrelang gewartet hat. US-Präsident Joe Biden hatte ihn regelrecht geghostet, nachdem immer klarer wurde, dass der Krieg im Gazastreifen immer härter und opferreicher wurde. Nun ist er der erste ausländische Regierungschef, der von Bidens Nachfolger Donald Trump im Weißen Haus empfangen wird. Es soll um die Gaza-Frage gehen, natürlich, und um den Iran. Gegenwind aus Washington? Ist jetzt nicht mehr zu erwarten. Trotz der Rückendeckung durch Trump sitzt Netanjahu deshalb in Israel nicht fester im Sattel. Und auch ein dauerhafter Frieden rückt nicht näher.
Seit 16 Tagen ruhen nun die Kämpfe im Gazastreifen. Am heutigen Dienstag soll die zweite Phase beginnen: Die Hamas und Israels Regierung wollen über die Freilassung der restlichen 79 Geiseln verhandeln, von denen 35 nach israelischen Angaben tot sein sollen. Außerdem soll über einen dauerhaften Frieden gesprochen werden – eine Mammutaufgabe, denn es gibt viele kleine und große Themen, die dabei auf die Tagesordnung müssen: Wird Israels Militär künftig, wie vor allem von Netanjahu gefordert, im Philadelphi-Korridor entlang der ägyptischen Grenze stationiert sein? Wie wird der dicht bevölkerte Landstrich künftig regiert? Wie wird das Verhältnis zur palästinensischen Autonomiebehörde sein? Und was passiert mit der Blockade der Grenzen durch Israel und Ägypten?
Schlechte Voraussetzungen für eine Befriedung
Der vorangegangene große Gaza-Krieg endete im Sommer 2014. Es folgten viele Jahre der Wiederbewaffnung der Hamas, des Raketenbeschusses israelischer Ortschaften, der Luftangriffe auf den Gazastreifen. Und am Ende: das Massaker in Süd-Israel am 7. Oktober 2023. Kann es dieses Mal anders laufen? Die Voraussetzungen für eine Befriedung sind schlecht. Denn zunächst einmal sind da die innenpolitischen Bedingungen in Israel. Netanjahus Likud regiert in einer Koalition mit den beiden ultra-orthodoxen Parteien und dem rechtsextremen Bündnis »Religiöser Zionismus«. Und dessen Anführer Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich sind strikt gegen ein Ende des Krieges, drohen damit, Netanjahu zu stürzen. Dies aber würde für Netanjahu wahrscheinlich das endgültige Ende seiner politischen Karriere bedeuten. Nach über 16 Jahren an der Macht wollen keine anderen Parteien mehr mit dem Likud unter seiner Führung koalieren. Und die Umfragen sagen schon seit Monaten andere, moderatere Optionen voraus. Besonders überraschend: Die linksliberale Meretz und die sozialdemokratische Arbeitspartei, beide über Jahre tot gesagt, könnten als Zusammenschluss unter dem Namen »Demokraten« auf wenigstens 13 der 120 Parlamentssitze kommen. Damit liegen sie nahezu gleichauf mit drei weiteren Oppositionsparteien. Alle sind nur wenige Sitze von Netanjahus Likud entfernt.
Netanjahu erhofft sich durch Trumps Hilfe neue Stärke. Das könnte nach hinten losgehen. In der vergangenen Woche hatte der US-Präsident in Telefonaten mit dem jordanischen König Abdullah II und dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah Al-Sisi gefordert, beide Länder müssten die komplette Bevölkerung Gazas, immerhin um die 2,4 Millionen Menschen, aufnehmen, damit der Gazastreifen wieder aufgebaut werden könne. Allerdings hatten schon vor Kriegsbeginn die Weltgesundheitsorganisation und Umweltschutzgruppen immer wieder gewarnt, die Verseuchung des Grundwassers und die vielen nie vollständig behobenen Schäden aus vorangegangenen Kriegen würden den Gazastreifen innerhalb weniger Jahre unbewohnbar machen.
Von Trumps Gaza-Umsiedlungsplänen wollen weder Ägypten noch Jordanien etwas wissen. Sie lehnen die Aufnahme ab. Beide Länder sind auch wirtschaftlich nicht dazu in der Lage, so viele zusätzliche Menschen unterzubringen und zu versorgen. Die israelischen Überlegungen gefallen Ägypten und Jordanien erst recht nicht. Die »Religiösen Zionisten«, unterstützt von Abgeordneten des Likud, fordern den Wiederaufbau der israelischen Siedlungen im Gazastreifen. Sie waren 2005 komplett geräumt und überwiegend abgerissen worden.
Trump macht Druck auf Ägypten und Jordanien
Trump schlägt gegenüber Ägypten und Jordanien ähnliche Töne an wie gegenüber Kanada und Mexiko. »Sie werden es tun. Wir tun eine Menge für sie, und sie werden es tun«, sagte Trump in der vergangenen Woche in Bezug auf die Aufnahme der Gaza-Bevölkerung. Abdullah II bezeichnete die Idee als »Zwangsvertreibung«, Al-Sisi erklärte »Deportation und Vertreibung des palästinensischen Volks aus seinem Land« wäre eine Ungerechtigkeit, an der man sich nicht beteiligen könne.
In den kommenden Tagen werden nun die Unterhändler aller Beteiligten in Kairo und Doha zusammenkommen, um das weitere Vorgehen zu sprechen. Weiterhin mit dabei: die Vermittler aus Ägypten und Katar. Außerdem dürfte die palästinensische Autonomiebehörde aus dem Westjordanland nun eine größere Rolle spielen. Denn am Montag wurde bekannt, dass Beamte der offiziellen palästinensischen Regierung am Grenzübergang Rafah Dienst schieben. Kurz zuvor war der einzige Übergang zwischen Gaza und Ägypten wieder geöffnet worden. Sieben Polizisten aus dem Westjordanland würden dort nun eingesetzt, berichtet die israelische Zeitung »Jedioth Acharonoth«. Außerdem sei eine »europäische Truppe« vor Ort. Der Einzige, der sich dazu äußert, ist Mahmud Al-Habbasch, ein Vertrauter des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas: »Wir kontrollieren die Grenze gemäß der Vereinbarung aus dem Jahr 2005.« Damals hatten sich Israel, die Autonomiebehörde und die Europäische Union auf einen komplexen Mechanismus zur Kontrolle des Übergangs geeinigt.
Der Bedeutungsgewinn der palästinensischen Autonomiebehörde ist von Gewicht: Über Monate hatte Netanjahu eine größere Rolle der Abbas-Regierung im Gazastreifen abgelehnt. Im Sommer war auch ein bereits weitgehend abgeschlossener Deal mit der Hamas daran gescheitert. Für die Menschen im Gazastreifen ist diese Entwicklung aber vor allem ein kleiner Hoffnungsschimmer: Am Sonntag wurden mehrere Schwerstkranke nach Ägypten überführt. Und auf der ägyptischen Seite stauen sich die Lastwagen mit Hilfsgütern.
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