- Kultur
- Poesie
Das Land, in dem alles zerfällt
Posthume Gedichte von Andreas Koziol
Krähen warten »im Schnee wie Hinterbliebene zum Gebet« und die Sonne ist erfroren. Wenn die späten Gedichte des 2023 verstorbenen Andreas Koziol eines eint, dann ist es die kosmische Einsamkeit. Kein Wunder, verließ der Autor doch zuletzt kaum noch die eigene Wohnung. So fragt sein lyrisches Ich einmal: »Kennst du das Land in dem die Toten leben / Dort hab ich seinerzeit möbliert gewohnt.« Dass dieser posthum erschienene Band »Menschenkunde« zustande kam, ist dem Dichter Lutz Seiler zu verdanken. Immer wieder hakte er nach, bat Koziol um neue Gedichte, der sie sodann sukzessive lieferte. »Schreiben ist nichts oder Nähe«, notiert er. In diesem Falle dürfte die Schriftstellerfreundschaft ein Katalysator gewesen sein.
In der späten DDR produzierte er Untergrund-Zeitschriften, er zählte, wie Henryk Gericke in seinem Nachwort schreibt, zu den »formvollendeten Systemsprengern«. »Menschenkunde« wird von der Erinnerung an all die vergangenen Beziehungen getragen. Es finden sich wunderschön-traurige, amouröse Gedichte. In »Überspannung« gibt es eine Sehnsucht, deren Einlösung nur in Enttäuschung münden kann: »Und dann fällt man wie aus allen Wolken / weil die Liebe viel zu früh den Raum verlässt«. Was über das Alleinsein hinwegtröstet? Vielleicht hier und da eine vage Hoffnung auf den Himmel. Aber vor allem scheint es der Humor zu sein, der den studierten Theologen aufrecht hielt. So auch in einem Text über das Altern. In dieser Phase werden »die Hosen weiter die Blicke enger« oder die »Autos leiser die Nerven dünner«. Auf eingängigen Jamben stolpert man durch diese gezielt leierhafte und groteske Miniatur.
Häufig entsteht die Komik durch die stringenten und wiederum völlig aus der Zeit gefallenen Reime. Möglicherweise denkt man hierbei an Märchen und Kindergedichte, oder eben an den Barock mit seinen festen Versmaßen und seiner Feier der Vanitas. Zugleich könnte deren Verwendung noch eine weitere Bewandtnis haben: Wo scheinbar alles zu entgleiten droht, gewährt die Form des Gedichts eine letzte Stabilität. Koziol definiert es selbst – passend dazu – als »Leiter aus taumelnden Lettern«. Es steht fest und vermag gleichzeitig der Unsicherheit und Ungewissheit Raum zu geben. Dementsprechend halten sich Gewinn und Verlust die Waage in diesen virtuosen, berührenden Poemen. Unabänderlich blicken sie in die verlockende Ferne: »es zog uns zu oft in das Land fort / Das wenn man es findet zerfällt / Wir waren zu lange die Antwort / auf Fragen die niemand mehr stellt.«
Andreas Koziol: Menschenkunde. Gedichte. Herausgegeben von Lutz Seiler in Zusammenarbeit mit Henryk Gericke. kookbooks. 88 S., geb., 24 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.