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Wenn die Schatten anfangen zu fliegen
Can Xue bearbeitet Chinas jüngere Geschichte und Gegenwart in Fabeln und fantastischen Erzählungen
Bereits Susan Sontag hielt Can Xue für Chinas größte Chance auf einen Literaturnobelpreis. Bei den englischen Buchmachern stand sie 2023 und 2024 an der Spitze der aussichtsreichsten Kandidat*innen. Trotzdem ist die chinesische Autorin hierzulande noch weitgehend unbekannt.
Can Xue wurde unter dem Namen Deng Xiaohua 1953 in Changha, Südchina in einer Intellektuellenfamilie geboren. Während des »Großen Sprungs nach vorn« Ende der 1950er und abermals während der »Kulturrevolution« Ende der 1960er Jahre wurden ihre Eltern zur Umerziehung aufs Land deportiert. Deshalb bekam sie nur eine rudimentäre schulische Ausbildung, begann aber auf Anregung ihres Vaters vor allem westliche und russische Literatur zu lesen.
Die Übersetzung des Pseudonyms Can Xue bedeutet sowohl »dreckiger, matschiger Schnee« wie auch »reiner, weißer Schnee«. Eine Doppeldeutigkeit, von der auch die Erzählungen in Can Xues jüngstem auf Deutsch erschienenem Band »Schattenvolk« geprägt sind. Da erzählt ein nicht genauer beschriebenes Wesen, das sich selbst weder als Ratte, noch Maus fühlt, aber von den Menschen als solche bezeichnet und vor allem behandelt wird, von seiner prekären Existenz in den Häusern hinterm Ofen, von der Unberechenbarkeit der Menschen, die es mal liebevoll wie ein Haustier, mal als Ungeziefer behandeln oder beides gleichzeitig. Wird es hinausgeworfen, sucht es sich ein neues Haus mit Ofen.
Die Häuser, sagt das Wesen, »sind alle miteinander verbunden und in langen Reihen angeordnet. Haben diese Menschen ihre Häuser vielleicht aus Angst so gebaut?« Es wird schnell klar, dass viele dieser Erzählungen Allegorien sind. Hier wird Chinas jüngere Geschichte und Gegenwart in Fabeln und fantastischen Erzählungen verarbeitet. Wer außerdem bei der Lektüre an Kafka (»Josephine und das Volk der Mäuse« oder »Beim Bau der Chinesischen Mauer«) oder auch an die Erzählungen von Jorge Luis Borgens denkt, liegt richtig. Can Xue bewundert Borges und hat Kafka nicht nur übersetzt, sondern auch ein Buch zu ihm veröffentlicht. Wenn Elias Canetti von Kafka meinte, er sei der einzige chinesische Autor deutscher Sprache, dann könnte man von Can Xue sagen, sie sei die am meisten kafkaeske Autorin Chinas.
In der Geschichte »In der Nachbarschaft des Menschen« erzählt eine Elster von einem verwilderten Park, in dem sie an einem Teich auf eine Frau trifft, die dort auf einer Steinbank sitzt. »Welche Verbindung gab es zwischen ihr und dem Teich? Waren ihre Kinder darin ertrunken? Oder wollte sie sich selbst darin ertränken. Mir war ihr Blick immer unheimlich, doch meine Frau teilte dieses Gefühl nicht. Sie sagte, die Fremde sei sehr gebildet und empfindsam. Das Gefühl meiner Frau trog nie.« Aber dann fällt die Frau ohnmächtig von der Bank. Die Elster fliegt ganz aufgeregt zu ihr. Als die Frau erwacht, greift sie nach ihr und hält sie eine Zeit lang unter Wasser. In »Das alte Haus« kehrt Zhou Yizhen in ihr vor zwanzig Jahren wegen einer schweren Krankheit zwangsweise verkauftes Haus zurück und trifft dort auf eine Frau, die nicht nur ihren Namen in Zhou Yizhen geändert hat, sondern ihr ganzes Leben, ihre gesamte Identität an Zhou Yizhen ausgerichtet hat.
Oft lassen sich an Can Xues Erzählungen nur einzelne Elemente deuten. Wie bei Kafka oder Borges bleiben sie im Ganzen rätselhaft. Vielleicht faszinieren sie den Leser gerade deshalb und ziehen ihn unwillkürlich in den Text. In den düsteren Geschichten gibt es immer wieder Lichtblicke. In »Glück« steht »Frau Magister Wen« nachts vor dem offenen Fenster ihres Zimmers als plötzlich alle möglichen Schatten in den halbdunklen Raum fliegen. Schatten, mit denen auch die Toten der Vergangenheit, die Toten des Größenwahns von Mao und kommunistischer Partei gemeint sein könnten. »Frau Wen spürte, wie ihr Körper sank, während die Decke und die vier Wände nach draußen auseinanderstoben. Doch sie schwebte nicht in der Luft, sondern stand fest auf der Erde, und alle Dinge ringsum strömten auf sie zu – erstickten sie aber nicht, sondern im Gegenteil, bescherten ihr ein Gefühl ungehinderter Freude.« Ist es die Freude zu leben und die Freude, ihnen als Autorin eine Stimme geben zu können?
Can Xue: Schattenvolk. A.d.Chin. v. Eva Schestag. Matthes & Seitz, 366 S., geb., 28 €.
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