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Grammys: Himmel und Hölle
Nadia Shehadeh über die schönsten und schlimmsten Momente der diesjährigen Grammy-Verleihung
Bei mir ist es jedes Jahr dasselbe Ritual: Ich verschlafe die Grammys, um am nächsten Morgen direkt nach dem Aufwachen aufs Handy zu gucken. In diesem Jahr sprang mich morgens um sechs Uhr direkt das Foto einer bildhübschen, eigentlich nackten Frau an: Bianca Censori, Ehefrau von Kanye West, stand in einem durchsichtigen Nylon-Minikleid auf dem roten Teppich der Grammys. »Au weiah«, dachte ich. Censori hatte ich in den vergangenen Monaten zwar gefühlt schon hundertmal fast nackt gesehen – aber dieser Grammy-Auftritt setzte noch eins drauf. Da wurde nichts verdeckt oder versteckt. Ich machte mir außerdem etwas Sorgen.
Dass Censori vor ihrer Ehe mit West nun nicht gerade als Nacktheitsperformerin bekannt war, fand ich schon immer merkwürdig. Und ich war nicht die einzige, die Bedenken hatte: Lippenleser*innen auf Social Media deuteten an, dass West Censori eventuell zur Entblößung gezwungen haben könnte. Den schwarzen Plüschmantel, den sie zuvor trug, legte sie nämlich erst ab, nachdem ihr Ehegatte ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte – und besonders zuvorkommend sah er dabei nicht aus. Auf einigen englischsprachigen Social Media-Accounts witterte man gar »revenge porn« gegenüber Kim Kardashian: Schließlich könne es kein Zufall sein, dass Censori der Ex-Ehefrau des umstrittenen Rappers so ähnlich sehe – und die gemeinsamen Auftritte weder fröhlich noch behaglich wirken, sondern immer ein bisschen wie sexualisierte Spaßbefreiung rüberkämen.
Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie war lange Kolumnistin des »Missy Magazine« und ist außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Zuletzt hat Shehadeh bei Ullstein das Buch »Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen« veröffentlicht. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Pop-Richtfest«.
Ich wusste aber, dass ich noch mit anderen Bildern rechnen konnte. Denn wenn man sich seit einigen Jahren auf eins verlassen kann, dann darauf, dass trotz ätzender Menschen und schlimmer Weltlage die Grammys bekannt dafür sind, auch einige Momente zu liefern, in denen die Welt nicht ganz so verloren wirkt. In diesem Jahr feierte man im buchstäblich brennenden Los Angeles – und einige der Stars und Sternchen verbreiteten Botschaften, die angesichts des Horrors der vergangenen Tage, Wochen, Monate, natürlich runtergingen wie Öl (oder Löschwasser).
Shakira solidarisierte sich mit Migrant*innen, Lady Gaga schoss scharf gegen die Trump-Regierung und die neuen Anti-Trans-Gesetze, Chappell Roan forderte eine bessere Behandlung von Künstler*innen – und zusätzlich Krankenversicherungen vor allem für die Newcomer. Zwischendurch wurde brav den Feuerwehrmännern gedankt. Dass alles war so lieblich, dass fast unterging, dass auch der verbriefte Frauenschläger Chris Brown einen nicht unwichtigen Award (bestes R&B-Album) mit nach Hause nehmen durfte. Und das, nachdem er Jahre zuvor ausgerechnet in der Grammy-Nacht seine damalige Partnerin Rihanna zusammengeschlagen hatte. Das Publikum quittierte Browns Gewinn mit eher verhaltenem Applaus – das war es dann aber auch schon an Sanktionen. Ein paar missbräuchliche Typen werden eben ohne Probleme bei den Grammys mitgezogen. Man konzentriert sich sowieso viel lieber darauf, möglichst viel Gutes in die glitzerige Preisverleihung hineinzuinterpretieren.
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Als fast schon revolutionär wird wahrgenommen, dass es tatsächlich Künstler*innen gibt, die sich nicht wie komplette Arschlöcher benehmen und teilweise sogar auch ein paar brauchbare Sachen auf der Bühne sagen. Presseleute stürzten sich dementsprechend im Nachgang auf die Glanzlichter der Verleihung: Von Ansprachen, die »Hoffnung für die LGBTQ+-Bewegung, Migranten und andere« machten war die Rede. Es hätten die Frauen dominiert – »Gott sei Dank«! Aber Schlagzeilen wie diese werden seit Jahren regelmäßig in den Tagen nach der Grammy-Verleihung ins Internet gepumpt und in die Print-Medien gepresst, während die Welt drumherum immer beschissener wird und gefühlt zugrunde geht.
Im Jahr 2024 fand man die »weibliche Dominanz« bei den Grammys »ermutigend«. 2023 wurde der Preisverleihung attestiert, gar für »soziale Gerechtigkeit« zu stehen. 2022 sprach man von den »queersten Grammy Awards aller Zeiten«, und 2021, 2020 und 2019 lobte man die »weiblich dominierten« Abende. Einerseits zum Teil wirklich profilierte und progressive Diskurse und andererseits stumpfe und hohlbrotige MAGA-Überzeugungen finden einfach gleichzeitig statt – und zwar schon seit Jahren. Und so liefen bei den Grammys natürlich auch ein paar Gestalten herum, denen es in der Vergangenheit auch nicht zu peinlich war, für Donald Trump zu singen.
Nein, die Grammys liefern schon lange keine Überraschungen mehr, sondern immer wieder nur dosiert ein bisschen Feelgood-Blablabla, an das sich im nächsten Jahr sowieso niemand mehr erinnert. Nur eins haute mich in diesem Jahr für ein paar Sekunden vom Hocker: wie schön das Publikum zu Chappell Roans Live-Auftritt zu »Pink Pony Club« mitsingen konnte. Und dann fiel mir wieder ein, warum die im Saal versammelte Truppe so schön mitgrölen konnte: Einige der besten Sänger*innen der Welt gaben hier schließlich ihr Bestes. Da kann man eine makellose Gruppendarbietung auch mal erwarten. Und das war dann vielleicht auch der Grammy-Moment, der mir in Erinnerung bleiben wird. Der Rest verpufft in ein paar schönen Schlagzeilen. So wie jedes Jahr. Ist das schlimm? Nein. Aber die Welt verändert es eben doch nicht.
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