Das Universum im Tropfen

Die britisch-türkische Schriftstellerin Elif Shafak ist überzeugt: »Literatur ist immer rebellisch«

  • Interview: Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 6 Min.
Interview

Die britisch-türkische Autorin Elif Shafak, geboren 1971 in Straßburg als Tochter eines Diplomaten, hat selbst Internationale Beziehungen in Ankara studiert und wurde dort auch promoviert, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Mittlerweile hat sie 20 Bücher veröffentlicht, davon 13 Romane; ihr Werk ist in 57 Sprachen übersetzt. In ihrem neuen Roman, »Am Himmel die Flüsse«, webt die begnadete Erzählerin ein traumhaftes Epos über Jahrtausende von Menschheitsgeschichte formvollendet zusammen und stellt herausragende Einzelgänger und Außenseiter sowie Verfolgte und Vertriebene vor.

Elif Shafak wurde in der Türkei mehrmals wegen ihrer Romanfiguren angeklagt.
Elif Shafak wurde in der Türkei mehrmals wegen ihrer Romanfiguren angeklagt.

Elif Shafak, Sie wagen in Ihrem neuen Roman »Am Himmel die Flüsse« eine Verbindung von der Frühzeit der Menschheitsgeschichte über das 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Wie schwierig war es, all diese Zeiten miteinander zu verbinden?

Es war eine sehr aufwendige Recherche, aber ich habe es mit dem Herzen geschrieben. Und auch wenn es wie ein großes Buch aussieht, da es Länder, Jahrhunderte und Kulturen umfasst – alles ist mit diesem winzigen Wassertropfen verbunden. Ich möchte das Universum in diesem Tropfen sehen.

Das Wasser als verbindendes Element zwischen den Menschen.

Wir neigen dazu zu denken, dass das Wasser in der Donau, im Tigris oder im Mississippi sehr unterschiedlich ist. In Wirklichkeit ist es das gleiche Wasser, das zirkuliert. Wenn wir verstehen möchten, wie verbunden wir als Menschen sind, dann werden wir auch die Klimakrise verstehen und begreifen.

Der männliche Hauptcharakter, Arthur Smyth, nicht George Smith, das reale Vorbild, ist ein Einzelgänger, der an seiner Vision festhält, gegen Spott und Niederlagen. Er entschlüsselt im 19. Jahrhundert die Geheimnisse der Keilschrift und löst das Rätsel und die Wunder von Gilgamesch, einer Urschrift der Menschheitsgeschichte. Warum steht er im Fokus?

Ich interessiere mich für Menschen, die misshandelt und an den Rand gedrängt wurden. Ich interessiere mich für diejenigen, die zum Schweigen gebracht wurden, die in ihrem Leben betrogen wurden. Diese Existenzen möchte ich verstehen.

Dann begleiten wir Lesenden das Mädchen Narin, das 2014, als der Völkermord an den Jesiden im Irak begann, vor terroristischen IS-Kämpfern flieht. Auch sie eine der Vergessenen?

Ja. Und Literatur besitzt eine erstaunliche Fähigkeit, Menschen, die entmenschlicht wurden, wieder zu humanisieren. In diesem Sinn ist Literatur immer rebellisch. Und ich mag diese rebellische Seite der Literatur.

In London folgen wir vier Jahre später der 30-jährigen Zaleekah, einer eigenwilligen, schwermütigen Frau, die Umweltwissenschaften studiert hat. Sie widmet sich dem Umweltschutz und ist den Rätseln des Wassers auf der Spur. Ihre Literatur ist politisch, aber Sie wehren sich gegen den Begriff einer politischen Literatur.

Wenn man als Schriftstellerin aus einer verwundeten Demokratie wie der Türkei kommt, kann man sich als Romanautorin nicht den Luxus leisten, unpolitisch zu sein. In meinem Roman steckt Politik. Außerdem bin ich Feministin, für mich ist auch das Persönliche politisch. Ich mag aber jene Literatur nicht, die belehren möchte oder predigt. Ein Schriftsteller hat Fragen zu stellen, auch schwierige Fragen. Und der Leser hat eigene Antworten zu finden. Literatur bedeutet für mich: Freiheit, Vielfältigkeit, Nuancen.

Täuscht der Eindruck, dass der Mensch heute wenig an Geschichte interessiert ist? Warum zum Beispiel sind Fake News in unserer Zeit so mächtig?

Ich unterscheide zwischen Information, Wissen und Weisheit. Wir leben in einer Welt, in der wir mit Informationen bombardiert werden, das tut uns nicht gut.

Was schlagen Sie vor?

Um Wissen zu erlangen, benötigen wir keinen Schnellschussjournalismus. Dafür brauchen wir Bücher, Literaturfestivals, intellektuellen Austausch. Und um Weisheit zu erlangen, müssen wir mit unseren Herzen im Gespräch dabei sein. Weisheit erfordert emotionale Intelligenz, Empathie. Wir legen zu viel Wert auf das, was wir Information nennen. Wir unterliegen leicht der Illusion, wir wüssten über alles Bescheid.

Wir wissen nichts.

Wir haben vergessen zu sagen, dass ich etwas nicht weiß. Ich weiß nicht – das war der Ausgangspunkt der Philosophie im antiken Griechenland. Wir haben Demut und Neugier verloren. Die vielen Informationen machen uns arrogant und ignorant.

Wie schwer haben es Schriftstellerinnen in einer männlich geprägten Welt?

Ich liebe Romane, die sich um Geschichte, Philosophie, Kultur und Wissenschaft kümmern, also Ideenromane. In der Verlagswelt gibt es aber die Erwartung, eine Autorin habe über häusliche Themen zu schreiben, beispielsweise über Ehe und Scheidung. Mich aber interessieren Armut und die Vielfältigkeit des Lebens. Meine Belletristik verbindet geschriebene und mündliche Kulturen, den europäischen Kanon des Romans mit eher mündlichen Erzählungen aus dem Balkan, Kleinasien und dem Nahen Osten. Ich möchte eine Brückenbauerin sein.

Sie leben schon so lange im Exil. Was bedeutet die Türkei heutzutage noch für Sie?

Die Türkei ist mein Mutterland. Ich habe eine sehr emotionale Verbindung zu den Menschen, zur Kultur, zu Frauen, zur Jugend, zu Minderheiten und zur Geschichte. Aber als Schriftstellerin brauche ich Redefreiheit. Wenn ich mir die Politik in der Türkei anschaue, bin ich sehr deprimiert.

Ich habe meinen Aufenthaltsort selbst gewählt. Ich musste meine Stimme neu finden. Als Autorin wäre es für mich viel einfacher, auf Türkisch zu schreiben. Das macht mich auch traurig und melancholisch. Gleichzeitig verschafft mir das Schreiben auf Englisch eine zusätzliche kognitive Distanz, es gibt mir ein zusätzliches Gefühl von Freiheit.

Sie schreiben heute hauptsächlich in Englisch?

Meine früheren Romane habe ich auf Türkisch geschrieben. Vor etwa 20 Jahren habe ich die Sprache gewechselt. Seitdem schreibe ich hauptsächlich in Englisch. Aber manche Emotionen sind auf Türkisch leichter auszudrücken, andere auf Englisch.

Welche sind das?

Melancholie ist auf Türkisch einfacher, hüzün, wie wir es nennen. Aber Humor, den ich liebe, ist auf Englisch viel einfacher, auch Ironie oder Satire. Sehnsucht und Trauer ist einfacher auf Türkisch auszudrücken.

Viele Autoren werden in der Türkei juristisch verfolgt, auch Sie waren mehrfach betroffen.

Kein Autor der Belletristik sollte vor Gericht gestellt werden. Ja, ich habe das 2006 selbst erlebt. Es war surreal, weil die Worte fiktiver Figuren vor Gericht standen. Mein türkischer Anwalt musste meine armenischen Romanfiguren verteidigen. Jahre später wurde ich erneut angeklagt, wegen zweier weiterer Romane. Zum einen wurde mir Beleidigung des Türkentums, wie es genannt wird, vorgeworfen, zum anderen hatten die Zensoren »Obszönität« ausgemacht, weil ich über geschlechtsspezifische Gewalt geschrieben habe.

Wie bedroht ist die Demokratie in der westlichen Welt?

Wir müssen für Meinungsfreiheit kämpfen. Ende der 190er und Anfang der 2000er Jahre herrschte auf der Welt viel Optimismus. In Medien und in der Wissenschaft sprach man von gefestigten und unsicheren Ländern. In den gefestigten Ländern, also in der westlichen Welt habe man sich keine Sorgen um die Demokratie zu machen, um die Meinungsfreiheit, die Rechte von Frauen, Menschenrechte. Heute wissen wir, so etwas wie gefestigtes Land versus unsicheres Land gibt es nicht. Wir leben in unsicheren Zeiten. Auch in Europa kann die Demokratie verloren gehen. Wir müssen wachsam sein.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse. Roman. A. d. Engl. v. Michaela Grabinger. Hanser, 592 S., geb., 28 €.

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