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Renaissance von Gesinnungstests
Der »Radikalenerlass« von 1972 war nur sieben Jahre in Kraft. Doch er wirkt bis heute nach
Was Tausende Anwärter auf Jobs im öffentlichen Dienst und Beamte von der Lehrerin bis zum Postboten infolge des sogenannten Radikalenerlasses von 1972 durchlitten, wurde von einigen Bundesländern wissenschaftlich aufgearbeitet. In einigen Fällen gab es Entschuldigungen oder Bekundungen des Bedauerns gegenüber den Betroffenen. Eine offizielle Rehabilitierung dieser Menschen oder gar Entschädigungszahlungen gibt es hingegen bis heute nicht, wie Ewald Leppin von der Arbeitsgemeinschaft Berufsverbote in der Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) dieser Tage auf einer Veranstaltung zum Thema berichtete.
Betroffene konnten ihren geplanten Berufsweg nicht gehen, bekamen nach dem Studium keinen Job, keinen Lehrauftrag an ihrer Universität. Etliche kämpften vor Gericht gegen Entlassung oder Nichtübernahme in den Schuldienst. Doch die Verfahren zogen sich oft über Jahre hin, bevor sie teils durchaus zugunsten der Kläger endeten. An den psychischen Belastungen tragen viele Betroffene, heute im Rentenalter, noch heute.
Insgesamt gab es in den 1970er Jahren 3,5 Millionen Überprüfungen von Bewerber*innen des öffentlichen Dienstes, bei denen Landesbehörden auf Beobachtungsergebnisse des Inlandsgeheimdienstes Verfassungsschutz zurückgriffen. Gegen 11 000 Personen wurden Berufsverbotsverfahren eingeleitet, in der Folge wurden 2250 Bewerber*innen nicht eingestellt. 256 Beamt*innen wurden entlassen. Betroffen waren fast ausschließlich Linke. Es sind nur zwei Fälle bekannt, in denen in jener Zeit Berufsverbotsverfahren gegen extrem rechte Beamte eingeleitet wurden.
Jan-Henrik Friedrich hat sich im Auftrag des Landes Berlin mit den Folgen des Radikalenerlasses beschäftigt und berichtete auf der genannten Veranstaltung von seinen Forschungsergebnissen. Die Berliner Landeschefin der GEW, Martina Regulin, betonte dort, der Beschluss des Abgeordnetenhauses vom September 2021, die Repressionspraxis im Westberliner Öffentlichen Dienst aufarbeiten zu lassen, sei ein »Erfolgsprojekt« ihrer Gewerkschaft und deren Arbeitsgemeinschaft Berufsverbote. Tatsächlich bemüht sich die Berliner GEW seit vielen Jahren um Aufarbeitung auch des Verhaltens der eigenen Organisation.
Die stand seinerzeit, anders als heute bundesweit, oft nicht hinter den Betroffenen. Damals gab es sogenannte Unvereinbarkeitsbeschlüsse, die dazu führten, dass Mitglieder linker Organisationen aus ihrer Gewerkschaft ausgeschlossen wurden. Das bedeutete für die meisten davon Betroffenen, dass sie sich gegen eine Entlassung oder Nichteinstellung nicht vor Gericht wehren konnten, weil sie nun nicht mehr den gewerkschaftlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen konnten.
Regulin erinnerte auch daran, dass der Radikalenerlass keinen Gesetzescharakter hatte. Vielmehr handelte es sich um eine Entschließung der Ministerpräsidentenkonferenz unter dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) über die »Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremistischen Organisationen« am 28. Januar 1972.
Allerdings distanzierten sich die SPD-geführten Bundesländer relativ schnell wieder davon. Sie beendeten die Regelüberprüfungen offiziell im Jahr 1979. Andere führten sie fort, in Bayern wurden sie erst 1991 gestoppt. Allerdings gibt es im Freistaat weiterhin umfangreiche Fragebögen, die Lehramtsanwärterinnen und Bewerber für Stellen an Hochschulen ausfüllen müssen. Da in Bayern sehr viele linke Organisationen und Vereine als »extremistische« Verdachtsfälle vom Verfassungsschutz beobachtet werden, kam es immer wieder zu Berufsverboten. Und in Baden-Württemberg und Hessen kämpfte der Lehrer Michael Csaszkóczy von 2004 bis 2007 in mehreren Gerichtsverfahren dagegen, dass ihm die Arbeit in seinem Beruf verwehrt wurde. Am Ende mit Erfolg, 2009 wurde ihm sogar eine Entschädigung zugesprochen.
Jan-Henrik Friedrichs benannte das Problem bei den Gesinnungstests, die die aktuellen Verfahren in Bayern und Hessen wie die früheren rechtlich so fragwürdig machen: Es gehe »im Kern um die Prognose zukünftigen Verhaltens« und eine »Umkehr der Beweislast«. Sprich: Die Unschuldsvermutung, ein Grundsatz des bürgerlichen Rechts in demokratischen Gesellschaften, ist außer Kraft gesetzt. Zweifel daran auszuräumen, ob ein Bewerber »die Gewähr bietet, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes« einzutreten – so die Formulierung im Radikalenerlass –, sei »im Prinzip unmöglich«, so Friedrichs.
Die Folgen des Radikalenerlasses, aber auch heutiger Repressalien seien ein »Klima der Angst und des Duckmäusertums«, sagte der Historiker. In den 1970ern habe es zugleich eine »enorme lagerübergreifende Solidaritätsbewegung« gegeben.
Da aber vergleichsweise wenige Linke in den öffentlichen Dienst gingen, so Friedrichs, hätten sich die »Politikfelder« für Repressalien zunehmend in andere rechtliche Bereiche verschoben. So werde gegen Klimaaktivist*innen oder Antifaschist*innen vielfach der Paragraf 129 des Strafgesetzbuchs eingesetzt, nach dem Beschuldigten die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen werden kann. Dies ermöglicht weitaus höhere Strafen als die Verfolgung einfacher Delikte. Auch die Verschärfung von Polizei- und Versammlungsgesetzen spiele eine große Rolle.
Jenseits dessen streben und strebten einige Bundesländer die Wiedereinführung von Regelüberprüfungen im öffentlichen Dienst an. In Brandenburg dürfte allerdings durch den Regierungswechsel hin zum Bündnis von SPD und BSW eine im vergangenen September in Kraft getretene Regelung wieder abgeschafft werden. Die Große Koalition hatte einen »Verfassungstreue-Check« für Bewerber im Staatsdienst eingeführt.
Dagegen zieht aktuell das von SPD und Grünen regierte Hamburg einen solchen Test samt Regelanfrage beim Verfassungsschutz in Erwägung. Dort wie in Brandenburg wird beteuert, es gehe darum, Rechtsextremisten aus dem Staatsdienst fernzuhalten. Friedrichs zitierte dazu den Juristen und Kolumnisten der »Süddeutschen Zeitung«, Heribert Prantl: »Solcher Unfug braucht keine Wiederholung.« Prantl hatte 2018 daran erinnert, dass es jede Menge rechtlicher Möglichkeiten gebe, bei konkretem Verdacht Neonazis von ihren Posten zu entfernen.
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