- Politik
- Die Linke im Wahlkampf
Linke: Heidi Popstar trifft Dietmar Silberlocke
Rund 1400 überwiegend junge Menschen kamen zu einem Linke-Wahlkampfevent in Rostock
Das »Moya« ist eine Konzert- und Eventhalle im Rostocker Stadtteil Marienehe, zwischen Altstadt und den zu DDR-Zeiten errichteten Hochhaussiedlungen Evershagen, Lütten Klein und Lichtenhagen im Norden gelegen. An diesem frostigen Mittwochabend warten hier schon eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn Hunderte überwiegend junge Menschen in der Kälte auf Einlass. Dabei gibt es hier kein Popkonzert, sondern nur einen Wahlkampfauftritt der Linkspartei. Motto: »Heidi meets Dietmar«.
Heidi – das ist die Spitzenkandidatin der Linken zur Bundestagswahl, Heidi Reichinnek, 36 Jahre jung und Shooting-Star der Partei, der sie aber schon fast zehn Jahre lang angehört. Dietmar, Nachname Bartsch, ist vor allem den Älteren in der Linken seit über 30 Jahren bekannt. Schon in der Vorgängerpartei PDS hatte er wichtige Positionen inne, und er war acht Jahre lang, bis zu deren Selbstauflösung aufgrund des Exodus des Wagenknecht-Lagers, Ko-Vorsitzender der Linke-Bundestagsfraktion. In Rostock will er im Rahmen der »Aktion Silberlocke« bei der Bundestagswahl am 23. Februar ein Direktmandat gewinnen.
Bislang wurden ihm gegenüber den anderen beiden »Silberlocken« Gregor Gysi – der seit Jahrzehnten in seinem Berliner Wahlkreis das Direktmandat holt – und Thüringens Ministerpräsident a. D. Bodo Ramelow, im Freistaat stets fast doppelt so beliebt wie seine Partei, vergleichsweise geringe Chancen eingeräumt.
Doch das Blatt könnte sich gewendet haben. Denn diese Woche rief der langjährige Vorsitzende der Grünen-Fraktion in der Rostocker Bürgerschaft, Uwe Flachsmeyer, auf Instagram dazu auf, bei der Bundestagswahl in der Hansestadt die Erststimme dem Linke-Kandidaten zu geben. Er zitierte dabei die Wahlempfehlung seiner Tochter: »Wer glaubt, dass die CDU nach der Ampel die Rettung ist, hat ehrlich den Schuss nicht gehört. Außer Hetze und leeren Versprechen kam nichts von denen. Darum eindringlich an alle Rostocker: Unsere Erststimme muss an Dietmar Bartsch gehen. Weil Die Linke dieses Direktmandat unbedingt braucht. Weil wir unbedingt Die Linke im Bundestag brauchen.«
Ins »Moya« sind aber schon die meisten der 1400 Menschen gekommen, weil Reichinnek angekündigt ist. Der aufbrandende Jubel, als sie die Bühne betritt, zeigt das. Und Bartsch überlässt ihr bereitwillig den Hauptpart, nennt sie »Chefin«, preist ihre im Internet viral gegangenen Bundestagsreden nach der gemeinsamen Abstimmung von CDU, CSU, AfD, FDP und BSW für weitere Asylrechtsverschärfungen und hebt das gewaltige Pensum an Auftritten hervor, das die Ko-Vorsitzende der Linke-Gruppe im Bundestag im Wahlkampf bewältigt.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Tatsächlich ist Reichinnek in den vergangenen Wochen fast jeden Tag irgendwo aufgetreten, am Dienstagabend zum Beispiel in Hamburg, wo ebenfalls um die 1500 Leute gekommen waren. In Rostock hören die Leute eineinhalb Stunden konzentriert zu. Bartsch wie Reichinnek ergänzen einander, teils wechseln sie sich ab, und Bartsch schafft es, seine Statements nicht wie boomermäßige Erläuterungen zu denen der jungen Kollegin klingen zu lassen.
Das passt zu den geradezu euphorischen Äußerungen Reichinneks zum wunderbaren Arbeitsklima, das sowohl innerhalb der Bundestagsgruppe als auch zwischen der Gruppe und dem Parteivorstand seit dem Weggang der Leute um Sahra Wagenknecht vor einem Jahr herrsche. Dabei war das unmittelbar nach ihrer knappen Wahl zur Gruppenvorsitzenden gemeinsam mit Sören Pellmann nicht unbedingt absehbar. Es gab hörbares Murren, dass Ost-West- und andere Proporz-Regeln nicht eingehalten worden seien, dass ein bestimmter »Machtzirkel« sie ins Amt gehievt habe. Doch offenkundig hat das Duo es geschafft, Gräben zuzuschütten.
Lange hieß es sogar, Reichinnek sei wie Pellmann dem »Wagenknecht-Lager« zuzurechnen. Das wurde bei der in Sachsen-Anhalt geborenen und aufgewachsenen Osnabrückerin wohl auch daraus geschlossen, dass sie 2019 in Niedersachsen Linke-Landeschefin geworden war, als ein gewisser Diether Dehm in dem Landesverband noch die Strippen zog, damals noch ein Wagenknecht-Vertrauter. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass an diesem Gerücht vielleicht doch nicht so viel dran ist, war eine Attacke, die Reichinnek im Bundestag schon im Oktober 2022 gegen die Besessenheit der AfD mit dem angeblichen »Genderwahn« ritt. Wagenknecht wettert hingegen immer wieder gegen die Verhunzung der deutschen Sprache durch Gendersternchen und deren »Mitsprechen«.
In Rostock bringt Reichinnek den Saal zum Kochen, wenn sie etwa sagt: »Wir sind die Lobby für alle, die sich keine leisten können.« Oder wenn sie wie in ihrer letzten Bundestagsrede daran erinnert, dass Union und FDP »die reichsten zehn Prozent noch mal mit 50 Milliarden zusätzlich beschenken« wollen. Die Linke dagegen wolle Millionäre und Milliardäre höher besteuern und 90 Prozent der Bevölkerung entlasten.
Etliche der jungen Leute, die ins »Moya« gekommen sind, haben Reichinneks intensive Aktivität in den sozialen Medien erst in den vergangenen Wochen wahrgenommen. Jedenfalls ist das bei Susen und Anna-Sophie so. Die Freundinnen sind beide 23 und studieren in Greifswald auf Lehramt. Nach Rostock waren sie eineinhalb Stunden mit dem ÖPNV unterwegs. Ihnen sei Klimaschutz besonders wichtig, aber auch Frauenrechte, Tierschutz und das Eintreten gegen eine migrantenfeindliche Politik, sagt Anna-Sophie. Susen fände es gut, wenn Die Linke Teil einer progressiven Regierung wäre.
Ole, der »früher immer die Grünen gewählt« hat, findet dagegen, dass Die Linke auch in der Opposition viel bewirken könne, weil sie kämpferisch sei und Leute mit Charisma habe. Der 28-Jährige räumt im Supermarkt Regale ein und lobt vor allem das Eintreten der Linken für soziale Gerechtigkeit und für Tierschutz.
Auch auf Janine, 26, passt nicht die von BSW-Anhängern verbreitete Darstellung, bei den Jungen, die jetzt zur Linken strömen, handele es sich vornehmlich um angehende Akademiker aus dem urbanen Raum und finanziell guten Verhältnissen. Janine ist als queere Person aus der mecklenburgischen Provinz vor einigen Jahren nach Rostock gezogen und arbeitet als Köchin in einem Restaurant. Sie ist Mitglied der Satirepartei Die Partei, hat aber »schon immer Die Linke gewählt«, und das will sie auch jetzt tun.
»Wir sind die Lobby für alle, die sich keine leisten können.«
Heidi Reichinnek Linke-Spitzenkandidatin
Zu den relativ wenigen älteren Menschen im Saal gehören Annett und Niels. Die Linke habe er in den vergangenen 25 Jahren oft gewählt, aber bei der letzten Bundestagswahl habe er sich erstmals für die Grünen entschieden, erzählt Niels. Jetzt will er wieder zur Linken zurück, weil »die soziale Frage von den anderen zu wenig berücksichtigt« werde. Und: »Wir haben so viele Probleme, die Jahrzehnte nicht gelöst wurden, vor allem ist die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergegangen.« Dass jetzt für alles die Asylbewerber verantwortlich gemacht werden, findet der 60-Jährige falsch, ohne zu leugnen, dass Integration teilweise schwierig ist und Geld kostet. Doch es sei sinnvoller, dieses Geld in Ausbildung und Sprachkurse für Menschen zu investieren, die bereits hier sind, als Fachkräfte gezielt aus anderen Ländern abzuwerben.
All die Themen, die Niels und Annett wichtig sind, werden an diesem Abend auch auf der Bühne angesprochen. Das Publikum darf Fragen stellen, aber Bartsch behält dabei das Mikro in der Hand, damit aus den Fragen keine langen Statements werden. Und tatsächlich werden die Fragen präzise und konzentriert gestellt.
Gleich zu Beginn befragt, was die friedenspolitischen Positionen der Linken von denen des BSW unterscheide, beteuern beide, Die Linke sei nach wie vor eine konsequente Kraft für Frieden und gegen Aufrüstung. »Wir haben jeder Aufrüstungsentscheidung im Bundestag widersprochen und gegen alle Kriegseinsätze der Bundeswehr gestimmt«, sagt Bartsch. Er finde es »nicht in Ordnung, wenn behauptet wird, wir seien Kriegstreiber«, nur weil es sich Die Linke nicht leicht mache. Er habe bei einem Besuch in der Ukraine die »gigantischen Zerstörungen durch russische Angriffe« gesehen und in Kiew erlebt, wie russische Drohnen über der Stadt kreisten, erzählt er. In dem Moment sei er froh gewesen, dass es dort eine wirksame Luftabwehr gab.
Reichinnek sagt, dass das BSW sich zwar als die einzig wahre Friedenspartei darstelle. Doch in Brandenburg habe es dem Ausbau des Luftwaffenstandorts Holzdorf und der Bereitstellung von 100 Millionen Euro Landesmitteln dafür zugestimmt. Darüber hinaus dürfte die Bundeswehr mit Zustimmung des BSW wieder an Schulen in dem Bundesland für sich werben.
Auf Instagram kommt Reichinnek gerade nicht mehr dazu, alle persönlichen Nachrichten und Fragen zu beantworten. Den Account betreue sie immer noch selbst, betont sie. Aber bei inzwischen 244 000 Followern wird das langsam schwierig. Auf Tiktok hat Die Linke die AfD derweil inzwischen überrundet, was »Likes« betrifft. Im Februar seien es 14 Millionen gewesen, sagt Reichinnek in Rostock. Auch dort dürfte ihr Account großen Anteil am Boom haben, wenngleich auch andere Politikerinnen wie die Bundestagsabgeordnete Caren Lay dort mittlerweile sehr aktiv und erfolgreich sind. Nach Angaben von Bundesgeschäftsführer Janis Ehling hat Die Linke die Ausgaben für Social Media im Wahlkampf außerdem gegenüber 2021 auf 600 000 Euro verzehnfacht.
Die Ausgaben für den Kampf um die aussichtsreichsten Direktmandate liegen derzeit bei 400 000 Euro gegenüber nur 50 000. Tatsächlich können sich neben den »Silberlocken« und Sören Pellmann in Leipzig inzwischen auch die Ko-Vorsitzende der Linken Ines Schwerdtner in Berlin-Lichtenberg und in Neukölln Ferat Koçak durchaus Hoffnungen machen, direkt gewählt zu werden. Und die Umfragen der großen Institute im Februar sehen Die Linke viermal bei sechs und zweimal bei fünf Prozent.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.