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Wölfe im Schafspelz
Der Soziologe Johannes Kiess über die Vereinnahmung linker Gedanken für die sozialpolitische Doktrin der Neuen Rechten
Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel nannte jüngst Adolf Hitler einen Kommunisten, dieser sei »im Geiste ein Linker« gewesen. Wollen die Rechten gerne als Sozialisten verstanden werden?
Ich würde sagen, dass es bei solchen Manövern vor allem darum geht, Linke als die eigentlichen Nazis zu bezeichnen. Das ist eine alte Taktik faschistischer Agitation, mit der etwa auch liberale oder demokratische Akteure als die wirklichen Diktatoren verunglimpft werden: Es gebe eine grüne Gesinnungsdiktatur, die Pandemie sei eine »Plandemie« gewesen, die eine Gesundheitsdiktatur erschaffen sollte und so weiter. Damit werden einerseits die eigenen diktatorischen und faschistischen Absichten verschleiert, andererseits wird so das Publikum verwirrt. Es wird zunehmend unklarer, was eigentlich richtig und was falsch ist.
Trotz dieser Abgrenzung nach links bedienen sich Rechte linker Theorien. Sie haben dies in der Studie »Die sozialpolitische Doktrin der Neuen Rechten« analysiert. Was rezipieren die Neurechten und was machen sie daraus?
In der Studie haben wir uns exemplarisch für die sogenannte Neue Rechte zwei Fallbeispiele angeschaut: der dem Antaios-Verlag und dem in Schnellroda ansässigen Institut für Staatspolitik nahestehende »Textaktivist« Benedict Kaiser und das rechte Magazin für ökonomische Themen, »Recherche D« aus Dresden. Grob gesagt vertritt Kaiser einen »solidarischen Patriotismus«, den er auch aus einer Auseinandersetzung mit Marx, der Hegemonietheorie Antonio Gramscis oder dem Populismus von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe herleitet. In »Recherche D« wird sozialpolitisch eine »nachbarschaftliche Marktwirtschaft« propagiert. Dafür werden etwa auch linke Interviewpartner eingeladen, so hat beispielsweise Gregor Gysi dem Magazin 2019 ein Interview gegeben, in dem er unter anderem den Strukturbruch in Ostdeutschland nach 1990 diskutierte.
Johannes Kiess ist Soziologe und Politikwissenschaftler sowie stellvertretender Direktor des Leipziger Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung in Sachsen. Zusammen mit Matheus Hagedorny und Felix Schilk veröffentlichte er jüngst die Studie »Die sozialpolitische Doktrin der Neuen Rechten. Strategische Vereinnahmung und kalkulierte Provokation«.
Welchem Zweck dienen die sozialpolitischen Anleihen?
Das Gespräch mit Gysi ist sicherlich eine klassische »Interviewfalle«, wie sie auch die »Junge Freiheit« immer wieder anwendet. Allein, dass solche Personen im Blatt vorkommen, erzeugt dann schon Legitimität. Grundlegend gilt aber, dass bei all diesen scheinbaren Übernahmen von linken Positionen oder Theorieversatzstücken die inhaltliche Ebene nicht das Entscheidende ist. So ist eine Funktion solcher Legitimierung, die Angriffsfläche für den politischen Gegner zu verkleinern. In der Studie haben wir herausgearbeitet, dass es bei den Bezügen auch um gezielte Provokation der Linken und Liberalen geht sowie natürlich um den Eindruck, man würde mit der sozialen Frage ein zentrales Arbeitsfeld der politischen Linken übernehmen.
Diese Diskursstrategien sind aus der Rechten schon länger bekannt, oder?
Ja, es gibt in der Neuen Rechten die Strategie der Metapolitik, die Vorstellung einer Art rechter Kulturrevolution, um den vorpolitischen Raum zu erobern. Der extrem rechte Antaios-Verleger Götz Kubitschek führte dazu 2017 Kommunikationsstrategien aus, nämlich »Provokation«, taktische »Selbstverharmlosung« und »Verzahnung« mit gesellschaftlichen Diskursen. Der AfD-Politiker Alexander Gauland sprach etwa auch von einem »Rollentausch«, mit dem die Rechte angeblich jene fallengelassenen Positionen der Linken übernehmen müsse.
An alldem sieht man, dass es den Rechten mit ihren Bezügen auf linke Theorie weniger um theoretische Erneuerung als um den strategischen Aspekt geht. Die Bezüge auf Theorie oder Wissenschaft sind dabei zweitrangig und fast schon zufällig. Daher sprechen wir auch nicht von sozialpolitischer Theorie, sondern von Doktrin. Es geht nicht um eine Auseinandersetzung mit der Sache oder mit der Theorie, sondern letztlich um Agitation. Gerade in dem Beispiel »Recherche D« ist das ganz offensichtlich, weil dort völlig unverblümt und explizit gesagt wird, dass das Ziel ist, Begriffe in die Politik hineinzugeben. Es ist einem Kalkül geschuldet, dass sie doch über soziale Themen ein Stück weit sprechen müssen, um die Menschen zu erreichen – etwa indem man versucht, mit antikapitalistischer Rhetorik junge Leute anzusprechen.
Das ist ja wie ein Zugeständnis oder Anerkennung an die Linke?
Absolut. Ich würde auch sagen, es ist ein Eingeständnis, dass es das im rechten Diskurs gar nicht gibt. Es gibt marxistische Theorien, eine liberale Theorietradition oder Demokratietradition, aber auf der rechten Seite gibt es eigentlich nur Carl Schmitt oder die konservative Revolution. Daran wird sich entlanggehangelt, aber seitdem ist auch nichts Neues entstanden, das muss man ja auch mal klar sagen. Daher benutzt man die verschiedenen, auch linken Theorien wie einen Steinbruch.
Liegt denn aber in der rechten Sozialpolitik eine Spezifik? Oder ist es ein beliebiger Diskurs?
Die Sozialpolitik ist wichtig. Wenn wir uns die gegenwärtige politische Debatte ansehen, dann geht es zwar ständig um Migration. Wenn wir uns aber anschauen, was die Menschen wirklich beschäftigt, dann sind das hohe Preise oder Mieten, also sehr viel Sozialpolitik, die eigentlich verhandelt werden müsste. Die Menschen haben diesen Problemdruck und das wissen auch die Rechten. Aber sie wollen diese Probleme nicht lösen und wirkliche Vorschläge machen, sondern nur adressieren, und zwar so, wie es zu ihren ideologischen Grundüberzeugungen passt. Der Kapitalismus sei schlimm, er entfremde uns und sorge etwa für Verarmung – und deswegen brauche es eine völkische Gemeinschaft, die davor schützt. Nicht der Staat soll in die Lage versetzt werden, das zu lösen, sondern nachbarschaftliche Hilfe soll das regeln, in der jeder die Verantwortung für die Volksgemeinschaft trägt, ein guter Familienvater ist und so weiter. Es wird weder eine theoretische Analyse angestrengt, warum die Situation so ist, noch eine Lösung für das praktische Problem gesucht, sondern lediglich ein einfacher Ausweg angeboten. Und das ist letztlich das, was ja auch verfängt, wie man in den USA sieht: Die Leute glauben ja, dass den Staat zurechtzustutzen und ihn kaputtzumachen wirklich dazu führt, dass jeder für sich selber besser Vorsorge treffen und besser leben kann.
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Die Studie erwähnt aber auch den Widerspruch, dass linke Positionen von einer grundsätzlichen Gleichheit der Menschen ausgehen, während das rechte Weltbild die Ungleichheit der Menschen zur Prämisse hat. Wie geht das zusammen?
Auf der einen Seite zeigt sich daran der rein instrumentelle Umgang der Neuen Rechten mit diesen Theorien, die quasi beliebig zum Einsatz kommen und eingebaut werden können. Zum anderen findet eine Übersetzungsleistung statt. Im rechten Denken heißt es dann nicht Gleichheit, sondern Homogenität. Diese steht zwar auch im Widerspruch etwa zu einem hierarchisch geführten Staat, in dem ja genau nicht alle gleich sind. Aber dabei geht es dann auch eher um eine metaphysische Vorstellung, dass die Menschen in der Masse und dem Volk aufgehen sollen, während sie nach Leistungs- oder Abstammungsprinzip sortiert werden. Hier unterscheiden sich dann ja auch die verschiedenen Spielarten der extremen Rechten.
In der Studie wird das Spektrum zwischen einem völkischen, national-sozialen und einem autoritär-neoliberalen Pol der extremen Rechten aufgespannt.
Ja, wobei wir uns ja nur auf die Neue Rechte konzentriert und etwa klar neonazistische Gruppen oder Reichsbürger nicht mit einbezogen haben. Selbst innerhalb dieser Neuen Rechten haben wir wirklich ein breites Spektrum, da wird nicht nur entweder rein biologistisch oder rein nach dem Leistungsgedanken argumentiert. Aber ich würde schon sagen, dass damit ein zentraler Konflikt innerhalb der extremen Rechten benannt ist. In den USA sehen wir das beispielsweise ganz gut: bis zu einem gewissen Grad können dort völkischer Nationalismus und die extrem rechten Libertären zusammengehen, aber bei Fragen der Einwanderung wird es schwierig.
Angesichts der Übernahme sozialchauvinistischer Positionen und Forderungen nach Abschiebungen durch CDU und andere: Ist das das Ergebnis neurechter Metapolitik?
Diesen Akteuren und ihren Strategien einen so großen Erfolg zuzusprechen, das wäre überzogen und würde ihre eigene Erzählung verdoppeln. Aber die Neue Rechte wirkt in einem Umfeld, das eine Auswirkung mindestens auf die AfD hat, vielleicht auch noch in Randbezirke der CDU reicht. Und dort kann deren Normalisierungsstrategie, das Einbringen und Umdeuten von Begriffen durchaus erfolgreich sein. Sie haben auch eine mehr oder weniger akkurate Vorstellung von Öffentlichkeit oder vorpolitischem Raum, wie diese funktionieren und dass sie ihre Ideen dort einsickern lassen wollen. Aber das ist ein mehrstufiger Prozess.
Wie geht man nun mit dieser Simulation von Sozialpolitik um?
Für uns wie für alle, die sich mit der Neuen Rechten auseinandersetzen müssen – Gewerkschaften, Politik, Zivilgesellschaft – wollten wir klären: Haben wir es wirklich mit einer anderen Form extrem rechter Ideologie zu tun? Ich würde sagen, es ist mehr oder weniger dasselbe Weltbild, derselbe Rassismus und Sozialchauvinismus, nur sie verkaufen es ein bisschen anders. Das heißt aber nicht, dass man es unterschätzen sollte. Man muss sich im Klaren darüber sein, wie und mit welchem Ziel diese Akteure vorgehen. Es reicht nicht, den Rechten nur eine diffuse Unzufriedenheit zu unterstellen und zu glauben, man könnte die doch irgendwie abholen und hier und da zusammenarbeiten, so als hätten sie keine klar antidemokratischen Absichten. Doch, haben sie.
Und wir müssen uns diese Strategien anschauen, um deren – begrenzten – Erfolg zu verstehen. Irgendwie fühlen sich Leute von der verkürzten Kapitalismuskritik, den verkürzten Angeboten des Homogenen und des Einfachen ja angesprochen. Daraus muss man unter anderem ableiten, dass es sozialpolitisch sehr viel zu tun gibt. Das wissen wir alle zwar, aber wir müssen verstehen, wie brennend das eigentlich ist und dass es nicht ausreicht, hier einen Tarifabschluss zu machen und dort ein wenig zu beschwichtigen. Es gibt in der Breite der Gesellschaft ein grundsätzliches Unbehagen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen – das kann entweder bearbeitet werden oder es wird von rechts mobilisiert.
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