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Martin Crimp: Geschichten zur Anprobe
Die Berliner Schaubühne hält dem englischen Autor Martin Crimp die Treue und bringt sein Stück »Angriffe auf Anne« zur Aufführung
Bis Ende der 90er Jahre, so gab der Dramaturg John von Düffel einmal zu Protokoll, sei man immer aus dem Schneider gewesen, wenn ein Zuschauer gefragt habe, worum es in einem Stück nun wirklich gehe. »Man sagte einfach: ›Faschismus‹. Diese Antwort war immer richtig. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Wir leben im 21. Jahrhundert, und wenn man heute als Dramaturg gefragt wird, ›aber worum geht’s in dem Stück wirklich‹, sagt man: ›Identität‹. Und alle nicken.«
Zu dieser Zeit des Umbruchs, genau genommen im Jahr 1997, feierte Martin Crimps Stück »Attempts on her life« (deutsch: »Angriffe auf Anne«) seine Uraufführung am renommierten Londoner Royal Court Theatre. Folgt man von Düffel, könnte dieses Stück zu den Texten gehören, die eine Grenze markieren: Von hier an ging es um Identität. Unklar definierte Figuren arbeiten sich in Crimps loser Szenensammlung an einer Figur namens Anne ab, erzählen aus ihrem Leben, erfinden ihre Biografie, charakterisieren sie aus immer neuen Perspektiven. Anne ist mal Terroristin, mal Künstlerin, mal naive Geliebte, mal das Mädchen von nebenan, mal Kriegsflüchtling, mal eine einsame alte Dame.
Crimp bestimmte in seinem Stück Handlung neu. Er verzichtet auf Stringenz, eine Szene bricht einfach ab und eine neue beginnt. Nicht das »Was«, nicht der Inhalt, wird hier aufgeführt, sondern das »Dass«, die Produktion von Identität. Crimps Anne ist eine Verwandte von Max Frischs Gantenbein. »Ich probiere Geschichten an wie Kleider«, lautete Frischs poetologisches Prinzip, bei Crimp ist es nicht Anne selbst, die sich ausstaffiert, es sind all die anderen namenlosen Sprecherinnen und Sprecher, die nur durch ihre Charakterisierung der Figur Anne Kontur gewinnen.
In Lilja Rupprechts Inszenierung im Globe der Berliner Schaubühne erkennt man dann in Jule Böwe und Kay Bartholomäus Schulze zwei Drehbuchautoren, die nach dem Sex noch im Bett liegen und eine Szene entwerfen, in der Anne mit einem doppelt so alten Mann in einem Hotelbett landet. Oder die beiden bilden mit Marcel Kohler, dem dritten Spieler des Abends, eine Runde aus Kunstkritikern, die sich über das Werk der suizidalen Performancekünstlerin Anne beugen. Oder die beiden Herren halten ein von Böwe gespieltes Bürgerkriegsopfer namens Anne auf der Straße an, verlangen drohend die Ausweispapiere, fordern lautstark »Identität!«.
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In dieser Szene, so könnte man mit von Düffel sagen, findet die Wachablösung statt. Die Faschisten sind weiterhin bedrohlich, sie bedrängen den Einzelnen, aber sie sind keine Faschisten mehr, sie fordern keine Loyalität für den einen Führer, sie fordern Persönlichkeit, Individualität und Singularität. Das Ergebnis ist – eine bittere Pointe des Stücks – mehr oder weniger das gleiche. Denn die Gewalt zieht sich durch das Stück. Statt Angriffskriegen bringt hier immer wieder der Terrorismus den Tod, mithin: nicht die Armee, die staatliche und kollektive Gewalt, sondern die private und privatisierte Gewalt.
Man versteht rasch, warum dieses zeitgeistpralle Stück damals ein Hit wurde. Aber was hat es knapp 30 Jahre später zu erzählen? Natürlich ist Identität heute weiterhin ein Thema und sogar noch viel stärker. Doch wird sie heute mit ganz anderen politischen und medialen Verfahren ausgestaltet. Crimp greift immer wieder das Motiv des Drehbuchschreibens auf, Film und vor allem Fernsehen sind bei ihm die Kardinalmedien. Hier fand man in den 90er Jahren Vorbilder für die Modellierung des eigenen Selbst.
Am Premierenabend am vergangenen Sonntag fragt man sich dementsprechend, wo die Smartphones sind, wie Annes Instagram-Profil aussieht, wo sie sich identitätspolitisch verortet und welches Geschlecht sie für sich reklamiert. Rupprecht aber versagt sich der Aktualisierung und versucht das Stück mit Ausstatterin Annelies Vanlaere auch aus seiner Entstehungszeit zu lösen. Man bekommt jede Menge Kostümwechsel zu sehen, das Ensemble trägt immer wieder monströse Masken, probiert mal diese, mal jene Spielhaltung aus. An Aufwand wird nicht gespart bei dieser gut eineinhalbstündigen Identitätsfindung, doch ist die Mühe auch sichtbar.
Erfreulich, dass sie an der Schaubühne die Autorenpflege hochhalten. (Intendant Thomas Ostermeier hat Crimp schon inszeniert, er wurde von den hier arbeitenden Autoren Falk Richter und Marius von Mayenburg übersetzt, im letzten Jahr war er beim hiesigen Festival Internationale Neue Dramatik zu Gast.) Doch hätte man lieber ein neues Stück von ihm gesehen, hätte erfahren, was er heute über Identität zu erzählen hat.
Nächste Vorstellungen: 23. und 24. März
www.schaubuehne.de
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