- Wirtschaft und Umwelt
- Proteste gegen Atomkraft
Der »Mythos Wyhl« war der Anfang
Vor 50 Jahren begannen in einer badischen Gemeinde die Massenproteste gegen Atomkraft
In Wyhl am Rhein wollten einst die baden-württembergische Landesregierung und der Energieversorger Badenwerk ein Atomkraftwerk errichten. Das Vorhaben stieß rasch auf Widerstand: Bauern und Winzer befürchteten eine radioaktive Verstrahlung von Wein und Feldfrüchten, Fischer bangten um ihren Fang.
Am 18. Februar 1975 stürmten Hunderte Menschen den in der Nacht eingerichteten Bauplatz in der badischen Gemeinde. Als zwei Tage später die Polizei das Gelände mit Wasserwerfern und Hunden räumte, entfachte dies den Zorn erst recht: Am 23. Februar demonstrierten mehr als 25 000 gegen Atomkraft und Polizeigewalt, viele überwanden die Absperrungen. Der Bauplatz blieb über Monate besetzt. Es entstanden ein »Freundschaftshaus« und die »Volkshochschule Wyhler Wald«, Aktivisten gaben auf dem besetzten Platz die Zeitschrift »Was wir wollen« heraus und betrieben einen klandestinen Radiosender – Einrichtungen, die den »Mythos Wyhl« prägten. Nächtelang saßen Bäuerinnen und Winzer, Hausfrauen und linke Studenten am Lagerfeuer, diskutierten über die Risiken der Atomkraft, entwarfen Alternativen für die Energieversorgung und schmiedeten Pläne für eine bessere Gesellschaft.
In den 1960er und 1970er Jahren planten Bundesregierungen Hunderte Atomkraftwerke – von der Fantasie beflügelt, über billigen Strom, einen eigenen nuklearen Kreislauf und damit auch die Möglichkeit zur Produktion von Atomwaffen zu verfügen. Die meisten Meiler wurden nie gebaut, aus technischen und finanziellen Gründen. Eine atomare Wiederaufbereitungsanlage ließ sich weder im niedersächsischen Gorleben noch im bayrischen Wackersdorf gegen den Widerstand Zehntausender durchsetzen.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Wyhl war dafür das Fanal. An den ländlichen Standorten geplanter Atomkraftwerke, aber auch in vielen Städten entstanden Bürgerinitiativen. Die Anti-AKW-Bewegung wurde zur größten außerparlamentarischen Oppositionsströmung in der Bundesrepublik. Sie wuchs schnell, umfasste bald konservative Naturschützer, Standortinitiativen, die studentische Linke und die damals zahlreichen K-Gruppen. Das machte sie stark, aber auch anfällig für Spaltungen, wie sich erstmals bei den Brokdorf-Protesten zeigte.
Im Oktober und November 1976 kam es dort zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen. Von einer weiteren Kundgebung gegen das geplante AKW am 19. Februar 1977 distanzierten sich der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz, SPD- sowie DKP-nahe Gruppen. Sie riefen zu einer Kundgebung weit weg vom Bauplatz auf und konnten rund 20 000 Menschen mobilisieren. Dreimal so viele zogen trotz Verbots bei eisiger Kälte durch die Marsch zum AKW-Gelände. Erst der legendäre Treck der Gorlebener Bauern nach Hannover im März 1979 und die Besetzung der Tiefbohrstelle 1004 im Gorlebener Wald im Mai 1980 mit dem Aufbau eines Hüttendorfes in der »Republik Freies Wendland« führen die verschiedenen Spektren wieder zusammen.
Trotz weiterer Großdemonstrationen ging das AKW Brokdorf im Oktober 1986 in Betrieb, als erstes in Europa seit der Tschernobyl-Katastrophe. Es war, so empfanden es viele Aktivisten, die bitterste Niederlage der Anti-AKW-Bewegung. Doch Erfolge überwiegen: Im September 2020 etwa flog der Salzstock Gorleben aus dem Suchverfahren für ein atomares Endlager, aus geologischen Gründen, wie es offiziell hieß – diese hatte die Anti-AKW-Bewegung über Jahrzehnte vorgebracht. Ohne den massenhaften, phantasievollen Widerstand der Wendländer und ihrer auswärtigen Unterstützer hätte es den Neustart für die Endlagersuche nie gegeben, ist nicht nur die örtliche Bürgerinitiative überzeugt. Auch der Atomausstieg wäre ohne den anhaltenden Druck der Bewegung kaum zustanden gekommen.
Gleichzeitig hat sie den Ausbau der erneuerbaren Energien angestoßen. Atomkraftgegner sorgten mit dafür, dass sich Wind und Sonne als Energieträger etablieren konnten. Schon zu Beginn der 2020er Jahre überholten die Erneuerbaren die Atomenergie bei der Stromerzeugung. Und die Bewegung erstritt und verteidigte Grundrechte, die durch den »Atomstaat« ernsthaft in Gefahr schienen. Exemplarisch dafür steht der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1985, in dem weitreichende Aussagen zur Bedeutung der Versammlungsfreiheit und des Demonstrationsrechtes festgehalten sind.
Braucht es nach der Abschaltung der letzten AKW vor knapp zwei Jahren noch eine Bewegung? Klar, sagt Veteran Wolfgang Ehmke aus Gorleben. So bleibe ja die Ungewissheit, ob nicht auch in Deutschland der Betrieb von Atomkraftwerken wieder auf die Tagesordnung kommt. Und was sicher bleibe, sei der Atommüll. Laut einem Gutachten dürfte ein Endlagerstandort nicht, wie gesetzlich angestrebt, im Jahr 2031 feststehen, sondern frühestens 2074. »Bis dahin«, so Ehmke, »muss der Müll zwischengelagert werden, und da tickt eine Zeitbombe.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.