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Gewaltsames Verschwindenlassen: Auf der Suche nach Wahrheit

In ganz Mexiko werden Zehntausende Menschen vermisst. Ihre Angehörigen haben sich zusammengeschlossen und nehmen die Suche selbst in die Hand

  • Jana Flörchinger und Moritz Krawinkel, Ciudad Juárez
  • Lesedauer: 10 Min.
Seit 2011 sucht Anita Padilla ihre Tochter Jessica Yvonne. Mit dem Wandgemälde schafft die Familie einen Ort der Erinnerung und des Suchens.
Seit 2011 sucht Anita Padilla ihre Tochter Jessica Yvonne. Mit dem Wandgemälde schafft die Familie einen Ort der Erinnerung und des Suchens.

Wenn die anderen im Raum sprechen, blickt Verónica Miranda angespannt an die Decke. Ihre fast hüftlangen schwarzen Haare fallen über die rote Strickjacke, die sie trägt. Ihre Hände liegen ruhig, gefaltet über dem Bauch. Sie wirkt nervös, ihr Bein beginnt zu wippen, als müsste sie zuerst ihre Gedanken bändigen, um sprechen zu können: »Wir sind hier, weil die Behörden uns ignorieren. Für sie sind wir nur ein Fall mit einer Nummer, dabei machen wir ihre ganze Arbeit«, sagt sie. Verónica ist die Schwester von Rubén Luna Miranda, einem Mann Anfang 50, der im April letzten Jahres in Ciudad Juárez spurlos verschwunden ist.

Verónica Miranda ist Teil des »Colectivo Familias Unidas por la Verdad y la Justicia«. Das ist ein Zusammenschluss von überwiegend Frauen, deren Söhne, Ehemänner oder Brüder in dem nördlichen Bundesstaat Chihuahua an der Grenze zu Texas Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens wurden. Wir treffen einige Angehörige des Kollektivs in einem kühlen Besprechungsraum am Rande des Stadtzentrums. An den Wänden hängen lediglich auf Plastikplanen gedruckte Suchanzeigen der Verschwundenen, die sie bei Demonstrationen und Kundgebungen hochhalten. An einer langen Tafel sitzen wir uns gegenüber. Das grelle Licht der Leuchtstoffröhren wirft Schatten in die Gesichter. Die Stille zu Beginn des Austauschs ist kaum auszuhalten. »Alle Informationen habe ich der Staatsanwaltschaft geliefert«, beginnt Sagrario Cervantes schließlich das Gespräch. Die kleine Frau mit der hellen Stimme sucht seit fast zwei Jahren nach ihrem Sohn Alfonso Hernández. In ruhigem Ton beschreibt sie, wie die Behörden nicht einmal den Ausweis eines Zeugen, den sie ausfindig gemacht hatte, sehen wollten und dass es über acht Monate dauerte, eine DNA-Probe von Alfonso mit gefundenen und nicht-identifizierten Körpern abzugleichen.

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»Was die Frauen zu uns bringt, ist die Suche nach ihren verschwundenen Angehörigen«, erzählt uns die Leiterin des Menschenrechtszentrums Paso del Norte, Silvia Mendez. »Doch was sie hier verbindet, ist die gemeinsame Suche nach allen Verschwundenen.« Die Mitarbeiter*innen von Paso del Norte begleiten Fälle gewaltsam verschwundener Menschen und Überlebende von Folter. Anwält*innen der Organisation unterstützen die Angehörigen vor Gericht und Staatsanwaltschaft, Psycholog*innen schaffen Raum zum Sprechen und zum Austausch. Außerdem macht Paso del Norte zusammen mit den Angehörigen Druck für die Umsetzung von Menschenrechtsklauseln und forensischen Untersuchungsprotokollen. Das »Colectivo« steht der Organisation nahe. Bevor sich Angehörige an die Menschenrechtsorganisation wenden, machen sie sich meist auf eigene Faust auf die Suche nach ihren Liebsten. »Hier können wir jedoch Kräfte bündeln, die Suche gemeinsam gestalten und an den staatlichen Strukturen rütteln«, so Silvia Mendez. Auch deshalb haben sich die Angehörigen zum Kollektiv zusammengeschlossen.

Stigmatisierung von Familien

Von gewaltsamem Verschwindenlassen spricht man, wenn unter Beteiligung des Staates – sei es durch Sicherheitskräfte, die die Menschen entführen oder durch Unterlassung, weil Behörden nichts dagegen unternehmen – Menschen festgenommen oder entführt werden und danach nicht mehr aufzufinden sind. Beim Thema Verschwindenlassen denken die meisten an die Militärdiktaturen in Chile oder Argentinien. Dabei verzeichnen Mexiko, Irak, Syrien oder Sri Lanka weit mehr Fälle gewaltsam verschwundener Menschen. Diese fundamentale Verletzung der Menschenrechte wird oft als Mittel der politischen Unterdrückung eingesetzt. Das Verschwindenlassen soll verhindern, dass Verbrechen strafrechtlich verfolgt werden.

Aktuell sind in Mexiko 120 000 Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens dokumentiert, wobei das wohl nur einen Bruchteil der tatsächlichen Fälle abbildet. Viele Familien fürchten die zermürbende Konfrontation mit den Behörden und vermeiden eine Anzeige. Denn, anstatt dass die Staatsanwaltschaft ihrer Aufgabe nachkommt und Hinweise auswertet, Zeug*innen ausfindig macht und Spuren sichert, werden Fälle systematisch verschleppt und Angehörige hingehalten. Kaum ein Fall wird geahndet, kaum ein Opfer taucht wieder auf.

Unter der stechenden Wüstensonne suchen Familien im Umland von Ciudad Juárez nach Überresten von Verschwundenen.
Unter der stechenden Wüstensonne suchen Familien im Umland von Ciudad Juárez nach Überresten von Verschwundenen.

Hinzu kommt die Stigmatisierung von Familien und Opfern. Vielen wird nachgesagt, dass sie in kriminelle Geschäfte verwickelt und daher selbst Schuld an ihrem Schicksal seien. Verschwinden Migrant*innen, deren Angehörige weit weg in Zentralamerika, Venezuela oder Haiti leben, ist es noch unwahrscheinlicher, dass die mexikanischen Behörden dafür zur Verantwortung gezogen werden. Auch Rassismus und Queerfeindlichkeit sind wirkmächtig, wenn indigene oder queere Menschen häufig nicht einmal als Opfer ernst genommen werden. Verónica Miranda berichtet, was die meisten anwesenden Frauen teilen: »Wir werten Berichte aus, sprechen mit Zeug*innen, geben den Ermittlern Adressen, nennen Orte, erstellen Listen mit Telefonnummern. Sie verarschen uns. Mein Bruder war schwul und der Beamte, der den Fall bearbeitete, war homofeindlich. Für ihn war das Leben meines Bruders purer Ekel.«

Auch mit dem Amtsantritt von Mexikos neuer Präsidentin Claudia Sheinbaum im Herbst 2024 scheint sich das politische Szenario für die Bekämpfung gewaltsamen Verschwindenlassens nicht zu verändern. Im Gegenteil: Allein seit ihrer Amtseinführung wurden 4000 Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens dokumentiert. Bisher deutet alles darauf hin, dass Sheinbaum die Politik ihres Vorgängers und politischen Vertrauten Andrés Manuel López Obrador fortsetzen wird. Dieser hatte den Einfluss des Militärs auf zivile Bereiche erheblich ausgeweitet, was letztlich zu einem Anstieg der Gewalt und anhaltenden Menschenrechtsverletzungen führte. Soldat*innen und Beamte mit militärischer Ausbildung übernehmen heute Aufgaben, die weitgehend außerhalb ihrer verfassungsmäßigen Rolle liegen: von der Inhaftierung von Migrant*innen, dem Bau von Zugstrecken und Infrastrukturprojekten bis zur Kontrolle von Flughäfen. Die Erfahrung zeigt, dass Militarisierung immer auch die Vertreibung von Communitys, das Verschwindenlassen von Personen bis zur Hinrichtung von Migrant*innen, Journalist*innen und linken Aktivist*innen mit sich bringt, wie nicht zuletzt auch der Fall von Ayotzinapa zeigt.

Ciudad Juárez

Unter den fünf wichtigsten Wirtschaftsstandorten Mexikos verzeichnet Ciudad Juárez eine der höchsten Mordraten des Landes. Um den Zusammenhang von Ökonomie und Gewalt zu verstehen, lohnt ein Blick in die Geschichte des Ortes: Während der Prohibition in den USA florierte der Whiskyhandel in Ciudad Juárez. Im Schatten der Grenze entstand eine Art Las Vegas, mit Casinos und Nachtclubs sowie besten Gelegenheiten für Geldwäsche und illegale Geschäfte samt Erpressun­gen und Entführungen. Als das Geschäft mit dem Alkohol versiegte, blieben legale wie illegale Handelsbeziehungen und Logistik.
In den 60er und 70er Jahren entstanden die ersten Montagefabriken, sogenannte Maquilas, in denen Autoteile, Haushaltsgeräte und Kleidung im Auftrag transnationaler Unternehmen gefertigt wurden. Wieder waren es Entwicklungen in den USA, auf denen die Wirtschaft in Ciudad Juárez fußte: Die Stadt wurde zur Werkbank der USA. Die Wirtschaft florierte. Doch mit der neoliberalen Globalisierung und den Freihandelsabkommen der 80er und 90er Jahre wurde ein vollends deregulierter Kapitalismus entfesselt. Die Arbeitstage in den Maquilas sind lang, die Löhne niedrig. Migration aus dem Süden des Landes und Zentralamerika bringt immer neue billige und ausbeutbare Arbeitskraft.
Stadt und Staat haben die Investitionen in Infrastrukturen und Sozial­politik auf ein Minimum reduziert. Ganze Siedlungen sind von der Wasserversorgung abgeschnitten, abgelegene Straßen sind weder asphaltiert noch beleuchtet, Busse fahren selten. Gleichzeitig ist die Autobahn über die Grenze, auf der Lkw die Produkte in die USA liefern, bestens in Schuss. Modernste Fabrikhallen können in wenigen Wochen hochgezogen werden – während in einer Siedlung nebenan vielleicht nicht einmal das Abwassersystem richtig funktioniert.
Der Sozialwissenschaftler Héctor Padilla von der Autonomen Universi­tät Ciudad Juárez spricht von einer »pulverisierten, feudalen Stadt«. Wer kann sich sicher von hier nach da bewegen? Wer ist geschützt? Wer muss auf unbeleuchteten Wegen zur weit entfernten Bushaltestelle laufen? All das ist extrem ungleich verteilt. Mit der neoliberalen Deregulierung nahm auch die Gewalt zu. Viele der Betroffenen von gewaltsamem Verschwindenlassen oder Feminiziden sind ökonomisch marginalisiert, sie arbeiten in Fabriken, Textil­werk­stätten oder der informellen Ökonomie.
Die Dynamik der Stadt ist von schnellem Geld und Straflosigkeit geprägt und ruft legale wie illegale Interessen auf den Plan: Organi­sierte Kriminalität, parastaatliche Gruppen, lokale Politiker*innen und private Unternehmen ringen um machtpolitischen Einfluss und ökono­mische Interessen. Gewalt wurde zu einem probaten Mittel zur Durch­setzung von Interessen und ist damit untrennbar verbunden mit der globalisierten Ökonomie, die Menschen als billige Arbeitskraft ausbeutet.

43 Verschwundene von Ayotzinapa

Dass Verschwindenlassen eine systematische Praxis des mexikanischen Staates ist, zeigt sich an einem Beispiel aus dem Jahr 2014. Damals wurden im Bundesstaat Guerrero Busse, in denen Studenten einer linken Hochschule für Lehramtsanwärter auf dem Weg zu einer Demonstration in Mexiko-Stadt reisen wollten, von der örtlichen Polizei und unter Mitwirkung des Militärs brutal überfallen. Drei junge Männer wurden erschossen und 43 wurden entführt. Drei der Verschwundenen konnten immerhin anhand gefundener Knochenteile identifiziert werden. Von allen anderen fehlt bis heute jede Spur. Der Fall Ayotzinapa sorgte international für Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, weil die Sicherheitskräfte in jener Nacht mit Sturmgewehren des deutschen Waffenherstellers Heckler & Koch auf die Busse schossen. Das Stuttgarter Landesgericht stellte später fest, dass deutsche Waffenlieferungen zu jenen schweren Menschenrechtsverletzungen in Mexiko beigetragen haben und verurteilte zwei Mitarbeiter von Heckler & Koch zu Haftstrafen auf Bewährung. So steht heute Ayotzinapa sinnbildlich für das Schicksal vieler Verschwundener in Mexiko, für die Verstrickungen zwischen Behörden und organisiertem Verbrechen und für ihr brutales Vorgehen gegen soziale Bewegungen, von dem Waffenhersteller im globalen Norden profitieren.

»Kein Angriff ohne Antwort«: Der Feminizid an Isabel Cabanillas aus Ciudad Juárez löste 2020 landesweit Proteste gegen patriarchale Gewalt aus.
»Kein Angriff ohne Antwort«: Der Feminizid an Isabel Cabanillas aus Ciudad Juárez löste 2020 landesweit Proteste gegen patriarchale Gewalt aus.

Nachdem die damalige mexikanische Regierung die Ermittlungen verschleppt und unabhängige Untersuchungen über Jahre gezielt torpediert hatte, kam es erst 2022 zum Bruch mit dem vorherrschenden Narrativ, dass Ayotzinapa ein Ausnahmefall und allein dem organisierten Verbrechen zuzuschreiben sei. Dank des unermüdlichen Drucks der Angehörigen und unterstützender Gruppen konnte eine unabhängige Wahrheitskommission in einem Bericht belegen, dass der Staat systematisch an dem Verbrechen in der Nacht des 26. September 2014 beteiligt war.

Die mexikanische Journalistin Marcela Turati beschrieb auf einer Konferenz vor einigen Jahren das Unbehagen, das sie 2014 verspürte, als sie selbst über Ayotzinapa berichtete: »Sie haben 43 Studierende verschwinden lassen. Ich fragte mich: Haben sie 2010 etwa nicht mitbekommen, dass eine komplette Gruppe von 72 Migranten verschwand? Dass 52 Menschen in einem Spielkasino in Monterrey in Mexiko verbrannt sind, dass 2011 ein Grab mit 200 Leichen gefunden wurde?« Die 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa zwangen Politik und Gesellschaft dazu, anzuerkennen, dass das Verschwindenlassen bereits seit Jahrzehnten ein Mittel zur Durchsetzung von machtpolitischen und ökonomischen Interessen war.

Vom schmutzigen zum Drogen-Krieg

Bereits während des »schmutzigen Krieges« gegen linke und oppositionelle Gruppierungen ab Ende der 60er Jahre kam es in Mexiko zu gewaltsamem Verschwindenlassen. Die staatliche Aufstandsbekämpfung richtete sich gegen als »gefährlich« eingestufte Gruppen, die als innere Feinde markiert wurden. Verschwindenlassen, Folter und Hinrichtungen richteten sich jedoch bereits damals nicht nur gegen städtische Guerillas, sondern auch gegen Journalist*innen, gegen ländliche Gemeinden, die sich der staatlichen Entwicklungspolitik widersetzten sowie gegen die Menschen in Regionen, in denen lokale Banden und nationale Kartelle um territoriale Ansprüche kämpften.

Dennoch entfallen 98 Prozent der zurzeit dokumentierten 120 000 Fälle auf die Zeit seit 2006. Damals erklärte der Präsident Felipe Calderón den Drogenkartellen den Krieg, die Gewalt im Land erreichte ein nie dagewesenes Ausmaß. In Ciudad Juárez, wo bereits seit den 90er Jahren Journalist*innen und Aktivist*innen brutale Morde an Frauen dokumentierten und später den Begriff des Feminizids prägen sollten, ließ Calderón ab 2008 Militäroperationen erproben, die anderswo zum Einsatz kamen. Die Stadt wurde zu einem Laboratorium entfesselter Gewalt. Auch das Verschwindenlassen der 43 Lehramtsstudenten sechs Jahre später weiter südlich war eine Konsequenz der Militarisierung und der territorialen Kämpfe im Kontext des sogenannten Krieges gegen die Drogen. Das Verschwindenlassen erzeugt Angst und Misstrauen, es destabilisiert den sozialen Zusammenhang und dient schließlich der Kontrolle der Bevölkerung durch staatliche wie nicht-staatliche Akteure. Ein probates Mittel zur Durchsetzung der eigenen Macht, wenn es längst keine moralischen Schranken und auch keine Strafverfolgung gibt.

Suche nach Gewissheit

Zurück nach Ciudad Juárez. In ihrem Atelier in der Nähe des Stadtzentrums hat die Künstlerin Ana Infante gemeinsam mit Angehörigen von Verschwundenen Wandgemälde mit den Porträts der vermissten Personen erarbeitet. Seit einigen Monaten überdecken sie das Grau einer Mauer im nahegelegenen Park. Ein Erinnerungsort und ein Ort der Suche. An den Wochenenden treffen sich hier viele Familien, vielleicht erkennt ja jemand eine der abgebildeten Personen, so die Hoffnung. Die Wandgemälde sind im engen Austausch mit den Familien entstanden, erklärt Ana Infante. Dabei gleicht keines dem anderen. Sie unterscheiden sich im Stil, in der Bildsprache. Eines ist verspielt mit vielen Farben und Details, es erinnert fast an bunte Kirchenfenster. Ein anderes ist schlichter und folgt der Ästhetik von Tarotkarten.

Das Malen ist ein Akt des Erinnerns und des Trauerns. Hier verschwimmen die Grenzen von Suche und Erinnerungsarbeit.

Zur Einweihung der Wandgemälde kommen auch die Anwält*innen und Psycholog*innen von Paso del Norte. Denn es gehört zum Selbstverständnis der Organisation, die Familien auch bei solchen Aktivitäten zu begleiten und zu unterstützen. »Die öffentliche Suche trägt dazu bei, die Menschen zu sensibilisieren«, erklärt Silvia Mendez. »Sie schafft ein Problembewusstsein, aber auch dafür, dass die Betroffenen nicht nur Verschwundene sind, sondern vor allem Menschen: Brüder, Väter, Ehemänner.« Der ganze Gestaltungsprozess – von der Auswahl der Symbolik, die die Familien mit den Verschwundenen verbinden, über das Malen bis zur Wahl des Ortes – ist ein Akt des Erinnerns und des Trauerns. Hier verschwimmen die Grenzen von Suche und Erinnerungsarbeit. Im Gespräch betonen die Mütter, dass ein Wandgemälde der Suche diene. Infante erklärt uns, dass es auch eine selbstbestimmte Form des Trauerns an einem würdevollen Ort sei, öffentlich und für alle Welt sichtbar.

Wenn Menschen verschwinden, schlägt das jedes Mal einen tiefen Krater in das Leben der Angehörigen. Die Familien bewegen sich in einem unerträglichen Schwebezustand. Man könne sich als Außenstehende*r nicht vorstellen, was es bedeute, jeden Tag aufs Neue den Schmerz, die Angst, den Stress zu durchleben, erklärt eine der Frauen. Sie wolle ihren Mann tot oder lebendig, nur endlich Gewissheit und ein bisschen Frieden. Wenn der Abschied unmöglich ist, wird das Weiterleben schwierig. So ist die kollektive Suche von dem Beharren darauf getrieben, dass sterbliche Überreste irgendwo sein müssen. In dieser Überzeugung und in der gemeinsamen Suchpraxis widersetzen sich die Familien einer gewaltvollen Realität, die mit dem Verschwinden begann und sich in der Ignoranz der Behörden fortsetzt. In der gemeinsamen Arbeit, im Austausch des Kollektivs wird die verzweifelte Suche auch zu einer Form des kämpferischen Erinnerns, eines Kampfes gegen das Vergessen.

Moritz Krawinkel leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei Medico International. Jana Flörchinger ist Mitherausgeberin des Sammelbandes »Geographie der Gewalt. Macht und Gegenmacht in Lateinamerika« (Mandelbaum, 2022). Gemeinsam sind sie zuständig für Medicos Arbeit in Mexiko und Zentralamerika.

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