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Gegen Gespenster
Neue Gedichte von Regina Jarisch wollen »tatsächlich tanzen«
Auch wenn hier das Buchmotto gelten soll, fürs Lesen »keinen Rat anzunehmen« (Virginia Woolf), ist der neue Gedichtband von Regina Jarisch zu empfehlen, denn diese Poesie lädt ein, sich aus ihrem Vorrat etwas Eigenes zurechtzumachen.
In ihrem Lyrikband »Herzflug« von 2020 verband Regina Jarisch ihre Gedichte mit Zeichnungen des Thüringer Künstlers Jost Heyder und mit dem sich durch die Winde schwingenden Ikarus, dessen zeitlose Träume sie mit »flieg stolzer künder« retten möchte. Vier Jahre fordert sie nun mit Lebensmut: »tatsächlich tanzen«. Dazu gibt es acht Fotos von der mit ihr befreundeten Thüringer Künstlerin Gudrun Wiesmann, sie schaffen besondere, nachdenkliche Blicke auf die Texte von Jarisch.
In ihrer »bestandsaufnahme« vermisst Regina Jarisch »eine stunde vom mond und eine venusstunde«, denn sie »sah zwei stunden zu viel/ ins weltliche treiben«. Wollte sie die »versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen« (Karl Marx)? Gegen fragmentierte, versteinerte Welten greift auch Jarisch Elemente des Chaos auf. Doch schwer lässt sich ein Lied des Zusammenlebens anstimmen, wenn der »wortverfall« mit »feedback server store topseller cash crash« die Wörter entleert. Auf der Bank der Wörter »ist gleichheit nicht gefragt/ und brüderlichkeit (…) nicht gendergerecht«, wird die missverstandene »freiheit enttäuscht zurückgegeben«, denn »hoffnung und frieden/ durch keinen scheck mehr gedeckt«. Ihr »wort wirft sich/ gegen die gespenster« mit »fürsprache« von Daniele Danz, Wolfgang Borchert, Hans Christian Andersen und Walther von der Vogelweide, nicht in ambitionierter, sondern in produktiver Aneignung. In »altersbeschwerden« klingt Günter Kunerts Gedicht »Film – verkehrt eingespannt« an: Wie sie 80 ist, dann vierzig, zwanzig oder noch nicht geboren »und alterslos davon (fliegt)«.
Als Schutzhülle der Haut peinigt sie die festgezurrte Kleidung. In die Haut hat sich für sie die Kultur eingegraben, die Zeit ist abzulesen und dann »fallen die Zeiger ins Dekolleté«. Und der rote Faden wird gezupft, gewickelt, im Liebesgedicht geflochten und an seinen Enden festgezogen, »verjahrt miteinander« bewirkt er »im spätsommer (…) im zärtlichen zueinander« ein Auftauen der Seele.
Regina Jarisch (geb. 1956) ist in Magdeburg aufgewachsen, studierte und arbeitet in Weimar. Dem Mitglied der Literarischen Gesellschaft Thüringens merkt man die Nähe zur thüringisch-sächsischen Dichterschule an, in ihrem Verhältnis zur Sprache, mit Wendungen aus Märchen und Mythen, mit alten und fachsprachlichen Wörtern, mit stabreimenden oder an- und wiederklingenden Wörtern der 88 Gedichte, die in thematischen Gruppen gefasst sind: »herz packt aus«, »zimmernelkenlöwenzahn«, »großformat«, »funken fliegen fallen«, »schafe tanzen nicht« und »wortverflochten«. In Regina Jarischs Gedichten schwebt zwischen den Menschen, in wundersam erdachten, aus der Fantasie zugeflogenen Wörtern ein verbindendes Wortklangnetz.
Regina Jarisch: tatsächlich tanzen. Gedichte. Mit Fotografien von Gudrun Wiesmann. Sisifo, Leipziger Literaturverlag, 116 S. mit 8 Abb., bros., 19,95 €.
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