Michael Müller: Sein letzter Kampf

Michael Müller war Regierender Bürgermeister, ist nun im Bundestag – und kämpft ums politische Überleben

Michael Müller im Straßenwahlkampf
Michael Müller im Straßenwahlkampf

So ganz ist Michael Müller auch nach vier Jahren nicht aus der Rolle des Regierenden Bürgermeisters herausgewachsen. Eine knappe Woche vor der Bundestagswahl ist er in der Konzernzentrale einer Berliner Dönerimbisskette zu Gast. Durch die bodentiefen Fenster im ersten Stock eines Bürogebäudes in Charlottenburg dringt die Mittagssonne, an der Wand ist eine Weltkarte mit allen Standorten der Kette angebracht. Eine Mitarbeiterin reicht türkischen Tee und Käsekuchen, während sich der Geschäftsführer daneben immer mehr in Rage redet: »Die Bürokratie bringt uns fast um«, sagt der kräftige Mann mit Vollbart. Wochenlang warte man auf Bescheide von Behörden, immer wieder verbiete das Ordnungsamt Außentische oder Dekoration. »Wir kommen nicht voran, wir sind überfordert«, klagt der Gastronom.

Müller nickt und hört zu – und sagt am Ende: »Wir können Ihre Beschwerden gerne weitergeben. Wenn wir uns da melden, dann schiebt das manchmal auch Sachen an.« Als wäre er immer noch der Regierende Bürgermeister. Ist er aber nicht. Seit 2021 vertritt er den Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf im Bundestag, beschäftigt sich dort mit Außenpolitik und nicht mit Verwaltungsverfahren. Sonderlich zufrieden wirkt der Unternehmer mit Müllers Antwort auch nicht. »Klar, können Sie da mal nachhaken, aber es geht mehr um die grundsätzliche Mentalität«, sagt er.

Im Wahlkampf ist sein altes Amt ein Vorteil, glaubt Müller selbst. »Ich setze auf Bekanntheit«, sagt er, zwei Wochen zuvor bei einem Infostand an dem Marktplatz am Karl-August-Platz in Charlottenburg. In dem Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf ist er damit nicht allein: Auch Lisa Paus (Grüne) kandidiert hier. Die Bundesfamilienministerin steht nur wenige Meter entfernt auf der anderen Straßenseite. Müller und Paus begrüßen sich mit Handschlag und unterhalten sich kurz, umschwirrt von Fernsehkameras. Das Interesse der Medien an dem »Promi-Wahlkreis« ist groß.

Für Michael Müller geht es um das politische Überleben: Holt er den Wahlkreis nicht direkt, wird er aus dem Bundestag ausscheiden. Über die Landesliste ist er diesmal nicht abgesichert. Im Dezember scheiterte er bei einer SPD-Delegiertenkonferenz mit einer Kandidatur um den dritten Platz auf der Landesliste. Stattdessen gewann der Neuköllner Bundestagsabgeordnete Hakan Demir. Müller stürmte unmittelbar nach der Abstimmung aus dem Sitzungssaal, für einen hinteren Listenplatz kandidierte er nicht mehr.

»Was sollte ich da noch rumsitzen?«, sagt Müller heute über den schicksalhaften Dezemberabend. Die Genossen hätten sich gegen ihn entschieden, das akzeptiere er. Im linken Flügel habe es Absprachen gegeben, um sich die sicheren Plätze auf der Landesliste zu sichern, dabei sei er hinten runtergefallen. »Die Delegierten wollten ein anderes Tableau, damit muss ich leben«, sagt Müller und klingt dabei trotzdem enttäuscht.

Auch unter den Marktgängern am Karl-August-Platz haben viele das Wahldrama um Müller mitbekommen. »Ich wähle Sie, um der SPD eins auszuwischen«, sagt ihm ein älterer Mann im Vorbeigehen mit schelmischem Grinsen im Gesicht. »Das habe ich schon ein paar Mal gehört«, antwortet Müller lachend. Eine Aussprache über den Wahlabend mit der Landesspitze oder den anderen Berliner Abgeordneten habe es nicht gegeben, berichtet er anschließend. Man begegne sich aber gegenseitig mit einer »freundlich-reservierten Stimmung«, sagt Müller. »Am Ende bleiben wir alle Sozialdemokraten.« Im Wahlkampf erhält Müller allerdings kaum Unterstützung vom Landesverband. Stattdessen treten häufig Bundespolitiker wie der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil neben ihm auf.

Es ist nicht das erste Mal, dass Müller mit dem SPD-Landesverband, den er selbst acht Jahre lang führte, aneinandergerät. Der gemäßigte Parteirechte gilt schon seit längerer Zeit als eine Art Fremdkörper in der vom linken Flügel dominierten Berliner SPD. Ein bisschen war das schon immer so: »Andere sind wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten«, erinnert er sich. »Bei mir war es Helmut Schmidt.« Der eher konservative Sozialdemokrat habe ihn vor dem eigenen SPD-Eintritt wegen seiner klaren Haltung in der RAF-Auseinandersetzung beeindruckt, erzählt Müller.

»Ich empfinde mich als linken Politiker«, sagt Müller, nur um nachzuschieben: »Aber ich differenziere auch nach Themen.« Manche Sozialdemokraten versuchten, bei jedem Thema »die linkeste Position« zu formulieren. »Das ist bei mir nicht so.« Trotzdem machte er in der Berliner SPD zügig Karriere: Nach kommunalpolitischer Aktivität in Tempelhof wird er 1996 ins Abgeordnetenhaus gewählt, wo er fünf Jahre später zum Fraktionsvorsitzenden der inzwischen zur Regierungspartei aufgestiegenen SPD gewählt wird. 2011 wird er unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit Stadtentwicklungssenator.

»Wir waren eine Gruppe von Leuten, die ähnlich unterwegs waren«, sagt Müller heute. Dazu gehörten Wowereit, der ehemalige SPD-Landesvorsitzende Peter Strieder und der derzeitige Bausenator Christian Gaebler. »Wir waren eine Gruppe von Menschen, die in einem eigenen Netzwerk ihren Weg gegangen sind«, sagt Müller. »Wir haben sehr ähnlich getickt.«

Am Ende führte ihn dieser Weg ins Rote Rathaus. 2014 kündigt Wowereit an, nach 13 Jahren als Regierender Bürgermeister zurücktreten zu wollen. In der SPD gibt es eine Urabstimmung über Wowereits Nachfolge. Müller gewinnt sie deutlich gegen den Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh und den Parteilinken Jan Stöß. Dass er in den folgenden sieben Jahren, von denen er seit 2016 mit Grünen und Linken regierte, keine Verwaltungsrefom geschafft habe, ärgere ihn am meisten, sagt er heute nach kurzem Nachdenken. »Wir haben diesen Knoten nicht zerschlagen können«, erinnert er sich. Auf die Frage nach seinem größten Erfolg antwortet er schneller: »Wissenschaft!« Die Hochschulen hätten sich in seiner Amtszeit entscheidend weiterentwickelt. »So wie Klaus Wowereit bleibende Verdienste um Kunst und Kultur hinterlassen hat, so war es bei mir mit Wissenschaft«, sagt er stolz.

Dabei hat Müller nie studiert, nie Abitur gemacht. In einem Metallbetrieb habe er Bürokaufmann gelernt, später bei seinem Vater noch Drucker. »Mein Lebensweg war schon ein bisschen schwerer ohne akademische Ausbildung«, erinnert sich Müller. »Ich musste dann mühselig alles nachholen und viel lesen.« Vorbehalte habe er unter seinen zumeist studierten Senatskollegen aber nie erfahren. Nur einmal, als er für anderthalb Jahre das Kulturressort im Senat verantwortete. »Frank Castorf, der damalige Intendant der Volksbühne, hat in einem Interview behauptet, dass ich noch nie vorher im Theater war«, sagt er aufgebracht. »Dabei haben meine Eltern sich ihr Geld zusammengespart, damit wir zu jedem Theatertreffen und in die Oper gehen konnten.«

»Ich schätze die Chance auf 50/50.«

Michael Müller (SPD) Bundestagsabgeordneter

Auch auf dem Marktplatz ist Müllers Ausbildung Thema. Ein Mann kommt auf ihn zu. »Ich habe auch Drucker gelernt«, sagt er und schüttelt Müllers Hand. »Ach, verrückt«, sagt Müller und erzählt vom elterlichen Betrieb. »Wir haben noch richtig mit Bleilettern gearbeitet«, sagt er und fachsimpelt ein wenig mit dem Berufskollegen. Er wirkt erleichtert, mal eine Minute nicht über Politik sprechen zu müssen.

2021 musste Müller den Platz als Regierender Bürgermeister räumen. Bei vielen blieb damals der Eindruck, dass der eher unauffällige Müller seinen Posten verlassen musste, damit die nach einer Plagiatsaffäre gestürzte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey ein neues Amt antreten konnte. »Die Diskussion hat schon vor Giffeys Plagiatsaffäre begonnen«, sagt Müller, er habe wegen schlechter Umfragewerte unter Druck gestanden. »Es hat sich dann so gefügt«, sagt Müller heute, seine Miene lässt offen, ob er noch Verbitterung empfindet.

Die Entscheidung, danach in den Bundestag zu gehen, sei für ihn »eher eine logische Konsequenz« gewesen, sagt Müller. »Ich war schon immer gerne Abgeordneter.« Im Parlament versucht Müller, sich als Außenpolitiker neu zu erfinden. »Ich wollte thematisch etwas anderes machen«, sagt er rückblickend. »Allerdings gab es natürlich für mich auch Überschneidungen, zum Beispiel durch meinen vorherigen Vorsitz als Präsident von Metropolis, dem Städtenetzwerk.« Er geht in den Auswärtigen Ausschuss und wird Vorsitzender der Afghanistan-Enquetekommission. »Vieles, was wir uns in Afghanistan vorgenommen haben, ist schiefgelaufen«, resümiert Müller. Man dürfe das Land aber jetzt nicht allein lassen. »Wir waren 20 Jahre lang da, wir sind da in einer Pflicht«, so Müller.

Das ferne Afghanistan spielt im Wahlkampf nur eine kleine Rolle. Der türkische Gastronom, bei dem Müller zu Gast ist, hat andere Probleme. »Keiner hat mehr Lust zu arbeiten«, sagt er und klagt über das Bürgergeld – das Herzensprojekt von Müllers SPD. Wie viel der Unternehmer denn in seinen Dönerimbissen zahle, will Müller wissen. »Knapp über Mindestlohn«, antwortet der Gastronom.

Müller will noch mal ansetzen, aber wird von einer Mitarbeiterin unterbrochen. Die Zeit ist knapp, der nächste Termin ruft. »Wir werden sicher noch mal sprechen«, sagt der Unternehmer. »Dem nächsten Bundestag werden Sie ja sicher auch wieder angehören.« Müller lächelt verlegen. »Ich schätze die Chance eher auf 50/50«, sagt er.

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

Tatsächlich dürfte selbst das recht optimistisch sein. 2021 holte Müller den Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf nur knapp, jetzt arbeitet das bundesweite SPD-Umfragetief gegen ihn. Weil sich seine Konkurrentin Lisa Paus und Müller gegenseitig Stimmen wegnehmen, gilt zurzeit der CDU-Kandidat Lukas Krieger als Favorit für das Direktmandat. Am Ende könnte der Ex-Regierende sogar nur auf dem dritten Platz landen.

Selbst am SPD-Stand auf dem Marktplatz scherzt ein Genosse: »Ab März hast du ja Zeit, dich auszuruhen.« Ob Müller selbst noch daran glaubt, dem Abstieg nach 30 Jahren im Polititikbetrieb noch zu entgehen? »Wir müssen noch kämpfen«, gibt er sich trotzig.

Und wenn es nichts wird? »Ich falle nicht in ein schwarzes Loch«, sagt der 60-Jährige. Gerade stehe sein Auto schon seit Tagen in der Werkstatt, weil ihm seine Reifen aufgeschlitzt wurden und keine neuen geliefert werden. Müller lacht. »Vielleicht werde ich ja Reifenhändler.«

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.