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»Bei uns gibt es gerade gar keine Stimmung«
Ein Einblick in die Ukraine zum dritten Jahrestag des Krieges
Leer ist der Bahnhof der ostukrainischen Metropole Charkiw*. Als ob man an einem Sonntagvormittag in einer Kleinstadt wäre. Dabei hatte Charkiw vor dem russischen Angriff noch fast zwei Millionen Menschen gezählt. Wenn nicht die vielen bewaffneten Polizisten auf dem Bahnhof wären, käme man sich fast vor wie in einer Geisterstadt.
Leer ist es auch auf Gleis 9 am Bahnsteig Nr. 5. Gerade mal drei Passagiere warten auf den Zug nach Hrakowe. Gut möglich, dass es an dem Schneesturm liegt, der an diesem Donnerstag bei Minustemperaturen von zehn Grad die Stadt lahmlegt.
Die Leere wirkt fast schon unheimlich
Während der Nahverkehrszug, die Elektritschka, auf Gleis 9 einfährt, spricht eine Frau einen Passagier an: »Setzen Sie sich in Waggon 3«, rät sie, »da ist es am wärmsten.« Sie fahre diese Strecke jede Woche mindestens einmal, erklärt sie schließlich, als sie es sich auf einer der ockerfarbenen Holzbänke der Elektritschka bequem gemacht hatte. Gut möglich, dass sie noch aus einem anderen Grund zu Waggon 3 geraten hat: Dieser ist wie die anderen Waggons fast völlig leer. Und wer sitzt schon gerne allein in einem leeren Waggon, das ist fast ein bisschen unheimlich.
»Heute Morgen habe ich aus dem Fenster geschaut und mich sehr gefreut, als ich gesehen habe, dass ein Schneesturm einem die Sicht raubt«, beginnt die 76-jährige Nadeschda, die früher mal Verkäuferin in Lebensmittelgeschäften war, das Gespräch. Sie stammt aus der Kleinstadt Kupjansk im Bezirk Charkow. Doch mit zunehmendem Artilleriebeschuss habe sie Kupjansk verlassen, lebe nun in einem Wohnheim in Charkiw.
Nach den Tieren schauen, wenn es geht
Doch es war nicht nur der Beschuss, der sie gezwungen hatte, nach Charkiw zu fliehen. Ihr Haus war total zusammengeschossen worden. Jetzt sei nur noch ein Zimmer bewohnbar, alles andere sei zerstört. Und in diesem Zimmer lebe ihr Hund. »Bei Schneesturm fliegen die Drohnen nicht, weil sie nichts sehen«, sagt sie und krümmt dabei einen Finger zu einem Kreis und hält ihn vor ein Auge. »Und deswegen habe ich mich spontan heute, wo man wegen des Schneefalls wenig sieht, entschlossen, nach Kupjansk zu fahren, um wieder mal nach dem Rechten an meinem Haus zu sehen.«
Dort werde sie ihren Hund und ihre Katzen sehen. In ihrer Abwesenheit kümmert sich ein Nachbar um die Tiere. Er hatte Kupjansk nicht verlassen, will bei seiner bettlägrigen Frau bleiben. Nadeschda will auf jeden Fall nach Kupjansk zurück, sobald sich die Lage etwas entspannen sollte.
Keine Hoffnung auf einen schnellen Waffenstillstand
»Ich will nicht hier im Gebiet Charkow bleiben«, erklärt indes einen Tag später die Journalistin Maria. Sie hatte zunächst noch auf einen Waffenstillstand mit Donald Trump gehofft. Doch diese Hoffnung hat sich zerschlagen, sie geht davon aus, dass es noch Jahre dauern wird, bis der Krieg zu Ende ist. Und so lange will sie nicht warten. Irgendwann in den nächsten Monaten werde sie in ein europäisches Land ausreisen. Eigentlich wollte sie zunächst nach Bulgarien. Doch da leben so viele Russen. »Und ich will einfach nicht mehr in einem Umfeld leben, wo man jeden Tag irgendwo die russische Sprache hört. Das traumatisiert mich«, meint sie.
Ihor, ein Taxi-Fahrer in Charkow, der vor einigen Monaten aus dem Gebiet Donezk nach Charkiw geflohen ist, ist genau wegen der russischen Sprache nach Charkiw und nicht in eine andere Stadt in der Ukraine geflohen. »Ich kann doch überhaupt kein Ukrainisch« meint er. Er könne sich nur an einem Ort wie zu Hause fühlen, an dem Russisch gesprochen werde. Und in Charkow wird vorwiegend Russisch gesprochen.
Im Geschäft sind mehr Verkäuferinnen als Kunden
Peinlich sauber ist es in dem Bekleidungsgeschäft irgendwo am Stadtrand von Charkow. Nichts hängt schief, der Boden ist blank geputzt, die Verkäuferin nimmt sich Zeit für ein Gespräch mit einem Besucher. Zeit hat sie, sehr viel, klagt sie. »Sehen Sie sich mal unser Geschäft an! Hier sind mehr Verkäuferinnen als Kunden. Leer ist es geworden, in unserem Geschäft. Und wenn jemand kommt, sind es vor allem Frauen. Männer sieht man bei uns kaum noch. Warum auch. Die haben Angst, von der Wehrbehörde mitgenommen zu werden. Wie soll ich überleben, ich muss die Angestellten bezahlen, Strom, Heizung….«
Aber in anderen Geschäften sei es auch so leer geworden. Noch vor einem Jahr sei es nicht so schlimm gewesen. Die Gründe des Ausbleibens der Kundschaft seien sicherlich vielfältig: Die Leute seien im Durchschnitt ärmer geworden, andere seien ausgereist. Wieder andere kommen nicht, weil es eben keine gemütlichen Einkaufsbummel mehr gebe.
Sirenen – jeden Tag und jede Nacht
»Meine Mutter kann nicht mehr schlafen«, berichtet die Arzthelferin Olha. Ständig sei die Mutter auf Telegram unterwegs – und wenn da wieder ein Angriff mit ballistischen Raketen angekündigt werde, gehe sie schnell zum nächsten Luftschutzraum. Das wirke sich natürlich auf die Gesundheit aus. »Meine Mutter ist in den letzten drei Jahren um zehn Jahre gealtert«, bemerkt sie.
Ganz anders Mykola, ein Soldat, der vor einem Jahr an der Front ein Bein verloren hat. »Was wir hier in Kiew an Sirenen und Einschlägen erleben, ist nichts im Vergleich zu dem, was wir an der Front erlebt haben. Er empfindet die Sirenen eher als störend, ist auf der Suche nach Fenstern, die den Schall besser isolieren. «Wenn es mich trifft, dann trifft es mich eben. Aber meinen Schlaf lasse ich mir nicht nehmen», sagt er trotzig.
Sprachlosigkeit in Odessa
«Meine Mutter ist in den letzten drei Jahren um zehn Jahre gealtert.»
Olha Arzthelferin
Leer ist Odessa geworden, berichtet der Theaterschaffende Nikita Rybatschenko (21). Und von Tag zu Tag werde es noch leerer, sagt er dem «nd». «Odessa war immer ein großes Dorf. Man brauchte nur auf die Straße zu gehen, und schon traf man nach wenigen Minuten einen Bekannten. Man hatte das Gefühl, dass jeder jeden kenne. Jetzt hat man schon Glück, wenn man überhaupt mal ein bekanntes Gesicht sieht. Aber nur selten hat man den Wunsch zu einem Gespräch. Wer weiß, ob der andere mich versteht.»
Und die Angst, nicht oder falsch verstanden zu werden, erschwere die Kommunikation. Vor allem, wenn es um politische Nachrichten geht. Einige seiner Bekannten hätten inzwischen aufgehört, Nachrichten zu lesen. Und so führe diese gestörte Kommunikation dazu, dass man die wirklich wichtigen Dinge alleine bewältige, mit sich selbst. Und wenn es dann doch mal zu einem Gespräch über Politik komme, so Rybatschenko, endeten diese meist vernichtend, hinterließen nur eine noch größere Ratlosigkeit als zuvor schon.
Alle seien der Politik müde, wie gerne nur hätte man vor all dem seine Ruhe. «Doch die Politik ist wie ein Krebsgeschwür, sie hat sich in unseren Körpern festgesetzt, bremst unser ganzes Leben.» Und so könne er die Frage «Wie ist die Stimmung in Odessa?» nur so beantworten: «Bei uns gibt es gerade gar keine Stimmung.»
Offiziell heißt die zweitgrößte Stadt der Ukraine Charkiw. Nach wie vor leben in der Metropole vor allem russischsprachige Menschen, die ihre Heimatstadt russisch Charkow nennen. Mit der Verwendung beider Begriffe verdeutlicht der Autor die faktische Mehrsprachigkeit der Ukraine. Zu erfahren, wie die Menschen wirklich über den Krieg denken, ist äußerst schwer. Zu groß ist die Angst, der Verbreitung des russischen Narrativs beschuldigt zu werden. Und das ist eine Straftat. Vor wenigen Tagen wurde die Politikerin Inna Iwanotschko von der inzwischen verbotenen Oppositionsplattform Für das Leben wegen «Verbreitung antiukrainischer Propaganda» zu 13 Jahren Haft verurteilt.
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