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Asyl: Verhandlungsmasse Menschenrecht
Syrische und afghanische Vereine besorgt über Koalitionsverhandlungen
Den 8. Dezember 2024 wird Mey Seifan nie vergessen. Es ist der Tag, an dem das Assad-Regime in Syrien stürzt. »Ein Traum, ein Wunder« sei das gewesen, sagt die Choreografin und Aktivistin, die schon 1999 aus Syrien nach Berlin flüchtete. Eigentlich hatte sie erwartet, dass sich viele Deutsche mit den Syrern mitfreuen würden. Doch die Realität ist eine andere: »Schon am nächsten Tag begann die Diskussion über Abschiebungen von Syrern«, sagt sie. Die Freude weicht der Angst.
Wie Seifan geht es vielen aus Syrien geflüchteten Menschen in Berlin. Sie blicken mit Sorge auf die hitzig geführte Migrationsdebatte. »Es ist nicht zu ertragen«, sagt Seifan. Nach dem Regimesturz habe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge alle Asylverfahren von Syrern pausiert. Die Betroffenen hingen nun in der Schwebe. »Wann gibt es einen Schritt zu einem echten Zusammenleben?«, fragt sich Seifan.
Zwölf Vertreter von Migrantenorganisationen und -beratungen von Menschen aus Syrien und Afghanistan sind am Mittwochvormittag bei Katarina Niewiedzial, der Integrationsbeauftragten des Senats, zu Gast. Sie eint die Sorge um die politische Entwicklung in Deutschland. »Wir erleben die unmittelbaren Auswirkungen des verschärften Diskurses«, sagt Niewiedzial. »Die Angst ist weitverbreitet.« Wegen Gewalttaten Einzelner würden häufig alle Menschen mit syrischem oder afghanischem Migrationshintergrund unter Generalverdacht gestellt. »Es wird immer sehr stark die negative Seite dargestellt«, sagt Niewiedzial.
Von der kommenden Bundesregierung erwarten die Vereinsvertreter wenig. »Ich befürchte, dass das Thema Migration zu einem Verhandlungsgegenstand gemacht wird«, sagt Kava Spartak, Vorsitzender des Vereins Yaar, der Flüchtlinge aus Afghanistan unterstützt. »Menschen aus Afghanistan und Syrien werden am Ende geopfert werden.« Sollte sich der designierte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) mit seinen Vorstellungen durchsetzen, könnte die Migration nach Deutschland bald drastisch eingeschränkt werden – und wieder nach Afghanistan abgeschoben werden. »Es darf nicht passieren, dass man sich die Schwächsten als Sündenböcke aussucht«, warnt er.
»Es fühlt sich so an, als ob wir Doppelstandards für Menschenrechte haben«, sagt auch Cornelia Rasulis vom kurdischen Verein Yekmal. Die Lage in Afghanistan habe sich nicht verändert, nur weil es in Deutschland eine neue Bundesregierung gebe. »In Afghanistan gibt es aktuell keine Situation, in der Menschenrechte nicht verletzt werden«, sagt sie.
»Es fühlt sich so an, als ob wir Doppelstandards für Menschenrechte haben.«
Cornelia Rasulis Yekmal e.V.
Die politische Situation mache sich für viele Migranten auch im Alltag bemerkbar, berichten die Vereinsvertreter. »In Deutschland gibt es viele Vorurteile und Diskriminierung gegenüber afghanischen Menschen«, sagt die Sozialarbeiterin Parisa Hosseini vom Verein Etehad, der sich vor allem für die Interessen der afghanischen Minderheit der Hazara einsetzt. Manchmal bekomme sie das auch selbst zu spüren: Vor Kurzem sei ihr auf der Straße ein Mann mit einem großen Hund begegnet. »Ich habe Angst vor Ihrem Hund, könnten Sie ihn anleinen?«, habe sie ihn gefragt. »Ich habe Angst vor dir – warum gehst du nicht in deine Heimat?«, habe der ihr entgegnet.
Das sei nur die Spitze des Eisbergs. Immer wieder erreichten den Verein Hassmails bis hin zu Morddrohungen. Eine Erfahrung, die auch die anderen Vereinsvertreter immer wieder machen. »Leute rufen uns an und beschimpfen uns«, berichtet ein Berater, der ebenfalls bei Etehad aktiv ist.
»Viele fühlen sich trotz Jahren des Aufenthalts nicht in Deutschland zu Hause«, sagt die Aktivistin Mey Seifan. Eine Rückkehr nach Syrien sei aktuell für viele aber nicht vorstellbar. »Viele fühlen sich dem Land noch emotional verbunden, aber ihre Kinder sind hier geboren und sprechen Deutsch als Muttersprache«, sagt sie.
Dazu komme die weiterhin angespannte politische Situation in Syrien: »Die schlechten Zeichen werden immer mehr«, so Seifan. »Viele, die jetzt in der Regierung sitzen, waren früher Terroristen.« Vor allem Frauen, Nicht-Muslime und Homosexuelle seien in Syrien noch immer akut bedroht.
Seifan ärgert, dass Syrer aktuell nicht ihr Ursprungsland besuchen können, ohne ihren Aufenthaltstitel zu gefährden. Solche »Go-and-See-Programme« seien aber wichtig, um eine Rückkehr nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg zu ermöglichen. »Die Leute müssen gucken können, wo sie stehen«, sagt Seifan. »Steht mein Haus noch? Kann ich mich überhaupt noch an diesem Ort aufhalten?« Das seien Fragen, vor denen viele Syrer stünden.
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