Das ganz normale Gefühlswirrwarr

Universelle Erkenntnisse mit dem Ex, der Katze und der Tochter: »Drei Tage im Juni« von Anne Tyler

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 4 Min.
Katzenhaare können gefährlich sein, besonders vor Hochzeiten
Katzenhaare können gefährlich sein, besonders vor Hochzeiten

In den achtziger Jahren habe ich begonnen, Anne Tylers Bücher zu lesen. Vorher wusste ich gar nicht, dass Romanschriftstellern gestattet ist, was Tyler macht – mit Geist, Witz und Herz über das Familienleben zu schreiben. Anne Tyler hat mein Leben verändert«, das schrieb Nick Hornby schon vor langer Zeit über seine mittlerweile 83-jährige Kollegin aus den USA. Anne Tyler erhielt 1989 den Pulitzer-Preis für ihren Roman »Atemübungen«, der im Gegensatz zu ihrem neuen Roman »Drei Tage im Juni« sogar nur an einem einzigen Tag spielt.

Auch dieser, ihr fünfundzwanzigster Roman dreht sich wieder einmal um eine US-amerikanische Mittelstandsfamilie aus Baltimore, dem Wohnort Tylers. Allerdings wurde diese Kleinfamilie vor ewigen Zeiten durch eine unüberlegte Affäre der Ich-Erzählerin Gail gesprengt. Damals tat ihr Mann, der konfliktscheue Max so, als wäre überhaupt nichts passiert, bis dieser Zustand für sie unerträglich wurde und sie sich von ihm trennte. Doch mittlerweile sind zwanzig Jahre vergangen und zur Hochzeit ihrer gemeinsamen Tochter Debbie treffen die 61-jährige Lehrerin und ihr Ex-Mann, der ebenfalls Lehrer ist, wieder aufeinander. Taylor gliedert ihren wieder sehr fein beobachtenden Kurzroman in drei Teile: »Schönheitstag«, »Tag X« und »Der Tag danach«.

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Zum »Schönheitstag«, den Sophie, die Mutter des Bräutigams, ebenso wie die Hochzeit, organisiert hat, ist die spröde Gail nicht eingeladen. (»Was sollte Gail schon dazu beitragen!, hatte Sophie wohl gedacht.«) Stattdessen eröffnet ihr die Schuldirektorin Gail an diesem Tag durch die Blume, dass sich die Schule von ihr trennen möchte – wegen mangelnder Sozialkompetenz. Und dann taucht auch noch ihr raumgreifender Ex Max mit einer alten Pflegekatze aus dem Tierheim auf dem Arm bei ihr auf und bittet sie, bei ihr übernachten zu dürfen. Ursprünglich wollte er bei ihrer Tochter schlafen, doch deren zukünftiger Ehemann leidet leider unter einer lebensbedrohlichen Katzenhaarallergie!

Gail ist immer noch von einigen Eigenschaften ihres Ex genervt, so neigt er dazu, »mitten in einem Vorhaben auszusteigen, als wäre sein Leben ein Experiment, dessen Ergebnis unwichtig sei«. Dennoch spürt sie immer wieder, beim trauten Imbiss in ihrer Küche oder bei der Probe für die Trauung am nächsten Tag, dass sie beide noch einiges verbindet. Dafür braucht Anne Tyler keine großen Worte oder analytische Beschreibungen, sondern lediglich ein paar feinsinnige Dialoge, denn diese Autorin versteht es hervorragend, das ganz normale Gefühlswirrwarr des amerikanischen Mittelstands subtil in Szene zu setzen.

In erster Linie verbindet Gail und Max die Sorge um die gemeinsame Tochter, die am Tag vor ihrer Hochzeit erfährt, dass ihr zukünftiger Ehemann Kenneth sie womöglich kürzlich betrogen hat. Das wühlt natürlich wieder Erinnerungen an Gails Fehltritt auf. Dennoch beginnt man sich mehr und mehr zu fragen, ob ein Neuanfang zwischen Max und Gail, die einander so gut kennen und verstehen, vielleicht möglich wäre. Debbie und Kenneth heiraten jedenfalls letztlich wie geplant.

Am »Tag X«, bei der Trauung in der Kirche, will die stets zurückhaltende Gail daran denken, »wie nervtötend Debbie im Teenageralter gewesen war«, um nicht in Tränen auszubrechen. Beim von Sophie organisierten Essen in einem Nobelclub muss Gail sich dann auch noch mit einem Ex-Freund rumplagen, der zufällig Onkel und Best Man des Bräutigams ist und sich frechweg direkt neben sie platziert. Die Nebenfiguren, wie beispielsweise die sehr auf Etikette bedachte Brautmutter, werden nur angedeutet, und dennoch genügen einige wenige, scheinbar nebensächliche Beobachtungen Tylers, dass man das Gefühl hat, diesen Typus genau zu kennen. Genauso wie man Gails Angst nachvollziehen kann, dass Debbie ihre tatkräftige, künftige Schwiegermutter womöglich mehr mögen könnte als ihre reservierte Mutter.

Am »Tag danach« denkt Gail noch einmal über ihre lange zurückliegende Affäre nach und beschließt, die alte Katze zu behalten. Die hat sich nämlich genauso in ihr Herz geschlichen wie die Liebe zu ihrem Ex-Mann. Es ist erstaunlich, wie es Tyler immer wieder gelingt, die universell gültigen Erkenntnisse ganz normaler Menschen in scheinbar unbedeutenden Gesten und Momenten aufblitzen zu lassen. Man bangt mit Gail und Max, ob sie den Mut aufbringen werden, die alte Geschichte endlich hinter sich zu lassen.

»Wenn mir jemand seine Gedanken mitteilt, habe ich manchmal ehrlich gesagt, das Gefühl, dass jeder Mensch auf seinem eigenen Planeten lebt«, sagt Gail einmal. Anne Tyler hilft uns seit beeindruckenden 60 Jahren, diesen anderen Planeten und uns selbst ein wenig besser zu verstehen.

Anne Tyler: Drei Tage im Juni. A. d. Engl. v. Michaela Grabinger. Kein & Aber, 240 S., geb. 23 €.

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